: „Sauerteig“ für neue politische Kultur
Am Wochenende gründeten in Berlin BürgerrechtlerInnen das „Forum Bürgerbewegung“ / Die Organisation will einen Beitrag für „aktive, lebendige Demokratie“ leisten ■ Von Wolfgang Gast
Berlin (taz) – Offenheit heißt das Stichwort: Offen für neue Ideen, offen für neue Mitglieder und Sympathisanten, offen für alternative politische Organisationsformen. Am Samstag gründeten in der Berliner Humboldt-Universität rund 150 BürgerrechtlerInnen, überwiegend aus der früheren DDR, das überregionale „Forum Bürgerbewegung“ – eine innerorganisatorische Vereinigung in der Partei Bündnis 90/Die Grünen, die alle Formen direkter Demokratie, die die Bürgerbewegung vor, in und nach dem Umbruch 1989 praktizierte, wahren und weiterentwickeln will.
Für den Bonner Bündnis-Abgeordneten Wolfgang Ullmann war am Samstag mittag im Saal 2002 der einstigen Elite-Uni der DDR klar, „wir erneuern heute das parteienkritische Projekt der Bürgerbewegung“. Wie sehr die Demokratie „durch die Parteiendemokratie deformiert“ sei, zeigt sich für Ullmann auch daran, daß heute bundesweit rund 30 Prozent der Wahlberechtigten sich in den etablierten Parteien nicht wiederfinden. Beispiel: Der überraschende Erfolg der Hamburger „Statt Partei“. Das jetzt gegründete Forum könne dagegen Impulse für eine Demokratisierung ausstrahlen und einen Beitrag leisten für eine „aktive, lebendige Demokratie“. Die Bundesrepublik brauche, so Ullmann, eine Bürgerbewegung, die immer wieder die „Gewissensfrage der Demokratie stellt: Sind wir das Volk?“ Notwendig sei eine „Konversion des eigenen Denkens“, und diese Fähigkeit sprach er den im Sommer letzten Jahres gegründeten Komitees für Gerechtigkeit ab: „Gerechtigkeit ist Bürger-, nicht Komiteesache!“ An der Frage der „Rundtischfähigkeit“ werde sich darüber hinaus auch im großen Maßstab entscheiden, ob es gelinge, die neu entstandenen Krisenherde wie in Ex-Jugoslawien durch Demokratisierung zu befrieden, oder ob der weitere Weg ganzer Gesellschaften in einer „Ethnokratisierung“ münde.
Hildegard Hamm-Brücher, von der FDP als Präsidentschaftskandidatin nominiert und wegen deren kleinen Parteitags in Magdeburg verhindert, ließ ihre Sympathien für das Projekt per Fax ausrichten. Auch sie stellte die Frage in den Mittelpunkt, „wie der dringliche Erneuerungsprozeß in Gang gesetzt werden kann“.
Das neue Forum möchte, so heißt es in den politischen Leitsätzen, „allen widerstehen, die versuchen, ihre Interessen rücksichtslos mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln gegen die Interessen anderer durchzusetzen“. Anknüpfend an die Runden Tische will sie „an der Überwindung dieser unsäglichen politischen Unkultur, die inzwischen mehr und mehr die Gesellschaft zersetzt, konsequent und entschieden arbeiten“. Sie will „Sauerteig innerhalb von Bündnis 90/Die Grünen sein“ und die Ökopartei durch immer neu dazustoßende Menschen bereichern, die sich auf der Basis des grünen Grundkonsenses auf eine freie Mitarbeit in der Partei einlassen.
Auch Jens Reich, von den BürgerrechtlerInnen als Kandidat für die Wahl des Bundespräsidenten benannt („Ich werde gehandelt, trete aber nicht als Handelsware an“), möchte dem „Durchmarsch der Parteien“ das Prinzip Konsens und Runde Tische entgegensetzen. Chancen für die Bürgerbewegung sieht er zum einen auf regionaler Ebene, wenn die BürgerInnen vor Ort ihre konkreten Anliegen, etwa beim Bau großindustrieller Anlagen, in Bürgerinitiativen formulieren. Unabdingbar sei aber auch, daß sich die Bürgerbewegung bundesweit auf die „prozeduralen Ziele der Demokratie“ konzentriert, das heißt, für plebiszitäre Elemente in den Verfassungen des Bundes und der Länder streitet, die Reform der parlamentarischen Demokratie vorantreibt und den Minderheitenschutz als politisches Prinzip durchsetzt – mit einem Satz: „die Betonauflösung von unten“ betreibt. Reich warf allerdings auch nachdenklich die Frage auf, „was machen wir, wenn eine Bürgerbewegung mit Kerzen gegen die Unterbringung von Asylbewerbern in ihrem Dorf demonstriert?“ Wolfgang Gast
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