Erbarmungslos

Frank-Patrick Steckel mutet uns Ibsens Monumentaldrama „Brand“ zu  ■ Von Gerhard Preußer

Wählen tun wir stets – nicht nur an der Urne und am Telefon. Wir wählen Waren, Männer, Frauen, Lebensstile, Geschlechterrollen und uns selbst. Doch verbindlich sind die Wahlen nicht. Der Wechselwähler liegt im Zeitgeisttrend. Da ist einer, der aus unendlicher Verzweiflung sich selbst wählt und sich treu bleibt bis zur grausamen Konsequenz des Irrtums, ein Schreckgespenst aus früheren Zeiten.

Frank-Patrick Steckel, der Spezialist für Unzeitgemäßes, das die Gegenwart ganz unvermutet trifft, hat im Fundus der vergessenen Stücke der Weltliteratur einen solchen konsequenten Selbstwähler gefunden: Henrik Ibsens Pastor Brand. Dieser rigorose Moralist ist der ungleiche Bruder von Peer Gynt, dem Lügenbold. „Peer Gynt“ blieb bis heute dank seiner wilden Phantasie ein Lieblingswerk der Theaterregisseure, „Brand“, das wort- und gedankenreiche Grüblerstück, 1865, ein Jahr vor „Peer Gynt“ geschrieben, schien für die Bühnen unbrauchbar. Doch gehören die beiden dramatischen Lebensberichte als Gegenbilder menschlicher Existenz zusammen: hier absolute Moralität und Verbindlichkeit, dort relative Amoralität und Unverbindlichkeit. Und wer uns besser gefällt, ist damit auch schon klar.

Dieser Brand ist schon ein Ekel. Läßt seine Mutter ungetröstet sterben, nur weil sie ihm und nicht den Armen oder der Kirche ihr geizig zusammengerafftes Geld vererben will, läßt seinen Sohn und seine Frau im kalten, dunklen Haus am Fjord versiechen, baut eine große Kirche und läßt sie leer – und warum das alles? Aus Konsequenz, aus Pflicht, aus einem Glauben, der keine Gnade kennt. „Alles oder nichts“ ist sein Wahlspruch.

Frank-Patrick Steckel, schon immer fasziniert von in die Isolation getriebenen Menschenfreunden wie Molières Alceste und Shakespeares Timon von Athen, nimmt die alte Übersetzung Christian Morgensterns von 1901 und streicht nicht nur (zu wenig!), sondern schmuggelt in den Text Reizwörter der Aktualität mit ein. Steckels Brand „rührt an den Schlaf der Welt“ wie Lenin, verachtet „Ausgewogenheit“, als ginge es um die Rundfunkfreiheit, „nach innen“ geht sein Weg wie der von Novalis; „den neuen Menschen“ will er schaffen wie Walter Hasenclever, „auf die eigne Kraft vertrauen“ predigt er den norwegischen Bauern wie einst Mao in Yennan; über die zur Phrase verkommene Formel Blochs von „Hoffnung als Prinzip“ macht er sich lustig. Statt über „Poesie“ und „Volksgelübde“, wie in der alten Fassung, spottet man nun über die „Utopie“. Das Schlagwort, das für den repressiven Zeitgeist steht, heißt nicht mehr „Humanität“, sondern „Toleranz“. Brand regt sich auf über den „Mehrheitsgeist“, als lebe er in unserer Demokratie der Volksparteien, und muß feststellen, daß das Volk im Glauben an das „Reich der Freiheit“ der „Wohlstandslüge“ hinterherläuft, als ginge es um die deutsche Vereinigung.

Diese verbalen Aktualisierungsspritzen häufen sich am Schluß, den Steckel völlig umschreibt. Bei Ibsen bekehrt sich der „Eisberg-Prediger“ Brand schließlich, verlassen in der Gletscherwüste, doch noch zu einem Leben mit den „Brüdern in der Sonne“, dann begräbt eine Lawine ihn unter sich, und von oben kommt die Stimme „Gott ist deus caritatis“. Diese Faust-Imitation ist für Steckel nur falsche Versöhnung. Sein Brand antwortet auf den gutgemeinten Ratschlag des Ewig-Weiblichen „Lebe, wie es dir gefällt!“ mit einer trotzigen Gegenfrage: „Tät' ich das, wenn ich mich schonte?“ und beharrt auf der Sehnsucht nach der Rückkehr ins Paradies, auch wenn ihm dafür als unversöhnliches Schlußwort entgegentönt: „Stirb! Ewig wird die Welt dich hassen.“

Steckel erweist sich als kongenialer Inszenator seines Helden. Verweigert wird jede entlastende Sinnlichkeit. Nur in den satirischen Szenen, in denen Ibsen Staat und Kirche mit den Figuren des Vogtes (Rainer Hauer) und des Propstes (Peter Roggisch) verspottet, hat man was zu lachen. Zuschauarbeit ist des Besuchers Pflicht. Jedes Bild ist Sinnbild, Bewegung und Aktion nur dort, wo unvermeidlich, ansonsten: Im Anfang und im Ende war das Wort, und das Wort ward Schauspiel, Deklamation im Bühnenbild. Und das ist schön, variabel und symbolisch. Kunstvoll drapierte Vorhänge dienen als Bergwände, Klippen und Pfarrhausmauern. Schwere dunkle Wolken hängen vorne tief gestaffelt über der Szene. Nach hinten oben verliert sich der Blick in unklarer, aber heller Transzendenz. Der in Pastelltönen vielfarbig verschmierte Bühnenboden zeigt je nach Beleuchtung Wiese, Meer und Gletscher (Bühne und Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer).

Erbarmen hat Steckel nur mit den Schauspielern. Die Riesenrolle Brands wird aufgeteilt auf vier Schauspieler. Nach einer Stunde wird ausgewechselt. Die Ablösung kommt, stellt sich neben den Spieler und übernimmt den Ball, das Wort, die Geste vom Vorgänger. So werden nicht nur die Darsteller geschont, sondern auch die Stadien von Brands Lebensweg voneinander abgehoben. Stephan Ullrich als junger Brand scheint zunächst zu sehr ein glatter Schönling für diesen religiösen Eiferer. Doch erkennt man dann, daß dieser schmächtige Jüngling genau das richtige Feuer für die Unbedingtheit des Rigoristen hat. Jochen Tovote als mittlerer Brand spielt eine versteinerte Sentimentalität, der das Abrahamische Sohnesopfer zuzutrauen ist und einen in diesem düstersten Akt des Dramas wirklich Furcht und Zittern lehrt. Martina Krauel darf in dieser Düsternis als Brands Frau Agnes gelegentlich im wilden Heulen auch mal etwas menschliches Gefühl zeigen.

Kein Erbarmen aber für die Zuschauer. Erst nach Mitternacht werden sie erlöst. Doch nach viereinhalb Stunden rhythmisiertem Pathos träumt man in vierhebigen Trochäen fort: Wer Erbauung sucht, der sehe / „Brand“ in Steckels Schauspielhaus.

Henrik Ibsen: „Brand“. Schauspielhaus Bochum. Inszenierung: Frank-Patrick Steckel. Weitere Vorstellungen: 24. Oktober, 5., 6., 19. und 27.November.