Verdrängungsmuster

Zur Bewältigung der Vichy-Vergangenheit in Frankreich  ■ Von Béatrice Durand

Für „Vergangenheitsbewältigung“ haben die Franzosen kein Wort. Statt es zu übersetzen, versehen sie es mit Anführungszeichen. Damit betonen sie diskret, daß Vergangenheitsbewältigung ein Germanismus sei, daß in Frankreich kein Bedarf an ihr bestünde.

Nicht daß sich Historiker mit dem Vichy-Regime nicht befaßt hätten. Im Gegenteil. Auch war es nie ein Geheimnis, daß prominente Vichy-Politiker – wie etwa Maurice Papon oder René Bousquet nach dem Krieg brillante Karrieren nahezu bruchlos fortsetzten: Sie wurden préfet, Bankier, sogar Minister. Ihrer ihrer Vergangenheit abschwören, mußte sie nicht. René Bousquet hatte 1942/43 als Generalsekretär der Vichy-Polizei und anderem die Rafle du Vel' d'Hiv organisiert, in der 12.000 Juden, darunter 9.000 Frauen und Kinder, von der französischen Polizei verhaftet, in den Sportpalast des Vélodrome d'Hiver gepfercht und anschließend deportiert wurden. Erst 1991 wurde er, ebenso wie Maurice Papon, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Im letzten Frühjahr, als der Prozeß stattfinden konnte, wurde Bousquet jedoch unter ungeklärten Umständen ermordet.

Bereits 1946 und noch einmal 1947 wurde Paul Touvier, der sich als Mitglied der Milice in Vichy der Verfolgung und Ermordung von Juden und Widerstandskämpfern schuldig gemacht hatte, in Abwesenheit wegen Kriegsverbrechen und Kollaboration mit dem Feind zum Tode verurteilt. Die Justiz ließ ihn jedoch die 20 Jahre bis zur Verjährung seiner Verurteilung im Jahre 1967 laufen. Da Georges Pompidou der „innere Frieden“ wichtiger war als das Aufklären dunkler Punkte der französischen Geschichte, bestätigte er 1971 die Verjährung per präsidialer Gnade. Um Touvier dennoch vor Gericht zu zwingen, griffen die Überlebenden und ihre Interessensvertreter – wie es auch im Fall Barbie geschah – auf das Konzept der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zurück: Diese sind nämlich unverjährbar.1 Jedoch entschied im April 1992 ein Pariser Gericht, daß es für den Prozeß gegen den ehemaligen Kollaborateur Paul Touvier keine Grundlage gäbe.

Ihre Argumentation, mit der die Richter die Nichtigkeit oder die Nichtnachweisbarkeit der Verbrechen begründen konnten, geht in ihrer Identifikation mit Vichy sehr weit. Die Definition des Verbrechens gegen die Menschlichkeit ist 1985 vom obersten französischen Gericht, dem Kassationshof, geändert worden: Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten seit 1985 „unmenschliche Taten und Verfolgungen, die im Namen eines Staates systematisch begangen wurden, der eine Politik idologischer Hegemonie betreibt“. Mit dieser Änderung sollten neben Menschen, die „wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer rassischen oder religiösen Gemeinschaft“ verfolgt werden, auch Widerstandskämpfer als Opfer der Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet werden können.

In ihrer Argumentation machten sich die Richter diese Änderung auf schon wahrhaft diabolische Weise zunutze: Obwohl diese neue Definition den Begriff des Opfers von Verbrechen gegen die Menschlichkeit erweitert, kann sie restriktiv ausgelegt werden – wie bei Touvier –, indem sie das Verbrechen an die Natur der Regierung knüpft. Das verbrecherische Individuum wird entlastet, solange die Regierung nicht belastet ist. Die Schuld des Vichy-Regimes, seine Politik ideologischer Hegemonie, müßte zuerst offiziell festgehalten werden, bevor Touvier wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden kann, argumentierten die Richter. Persönlich waren sie von der verbrecherischen Natur des État Français nicht überzeugt.

Im November 1992 wurde aber das Urteil der Touvier-Richter widerrufen. Der Prozeß wird wohl doch stattfinden. Der Fall Touvier aber hat eines gezeigt: Ein französisches Gericht verurteilt noch immer eher einen deutschen Nazi wie Barbie als einen französischen Faschisten: Die Milice solle man nicht mit der Gestapo verwechseln, und der Nationalsozialismus sei eine ungleich reinere Form des Übels als der Pétainismus. Dem Vichy- Regime werden mildernde Umstände zugebilligt: Alles Unrecht sei unter dem Druck des deutschen Besatzers begangen worden, die Alleinschuld liege bei den Nazis. Deutschland funktioniert im französischen Unbewußten als Entschuldigung und relativierendes Prinzip. Diese – in ihrer milden Form weit verbreitete – revisionistische These wird von den nackten Fakten widerlegt, insbesondere was die Verfolgung der Juden betrifft. Aus eigener Initiative hat der État Français den Status des Juifs im Oktober 1940 ausgeschrieben sowie wenig später Maßnahmen eingeleitet, um jüdischen Besitz zu „arisieren“. Die französische Polizei selbst hat den Fichier des Juifs zusammengestellt, mit dessen Hilfe die Juden zu Hause verhaftet wurden, und für die Rafle du Vel' d'Hiv verfügte René Bousquet nicht nur über die Polizei, sondern auch über faschistische Helfershelfer. Der État Français eilte in vielem den Forderungen der Nazis voraus. Es gab eine autonome und freiwillige Beteiligung Frankreichs an der Endlösung. Das ist dem nationalen Bewußtsein bis heute unerträglich.

Aus republikanischer Überzeugung weigern sich auch manche, Vichy zu verurteilen. Um die Unschuld der Republik zu beteuern, versuchen sie die Kontinuität der Institutionen und Personen zu verleugnen. Kommunisten wie Gaullisten hegten und pflegten nach dem Krieg die Legende einer Nation von Widerstandskämpfern. De Gaulle gestaltete dieses Schwarz-weiß-Bild von Vichy und der Republik, dieses „Mit-Vichy- nichts-zu-tun-Haben“, sehr bewußt: Während des Krieges betrachtete er sich selbst als die Verkörperung der staatlichen Legitimität, eine Ordonnance vom August 1944 behauptet, daß die Republik nie zu existieren aufgehört hat und deshalb alle Akten von Vichy nichtig seien. Dies erlaubte ihm später, die Vichy-Regierung als einen illegitimen und sogar illegalen Bruch in der republikanischen Kontinuität darzustellen. Eine Fernsehdeklaration von Mitterrand anläßlich des 50. Gedenktages der Rafle du Vel' d'Hiv ist vollkommen in diesem Geist: Zum 16. Juli 1992 aufgefordert, die Beteiligung Frankreichs an der Endlösung öffentlich zu verurteilen, antwortete er, daß eine offizielle Verurteilung gar nicht nötig sei, da die Republik die Taten des État Français (der offizielle Name des Vichy-Regimes) gar nicht zu verantworten habe. Zwar nahm er als Symbolpolitiker an der Gedenkfeier teil, zwar wurde der 16. Juli, also zwei Tage nach der Fête nationale, zum nationalen Gedenktag der Deportation und Ermordung von Juden in Frankreich erklärt. Typisch ist aber, wie die Kontinuität der Institutionen und Personen verleugnet wird, um die Republik freizusprechen.

Etwas juristisch für nichtig zu halten, erlaubt aber noch nicht, dessen Existenz zu verleugnen. Trotz juristischer Verneinung und heroischer Geschichtsschreibung gibt es einige Kontinuitäten zwischen dem État Français und den republikanischen Nachkriegsregimen. Die Révolution Nationale von Vichy hatte nicht nur die Devise der Revolution von 1789 „liberté, égalité, fraternité“ durch ihre eigene, „travail, famille, patrie“ ersetzt, sie wollte nicht nur eine „moralische Ordnung“ durchsetzen, sondern sie verstand sich auch als eine technokratische und administrative Revolution. Dank einer autoritären Regierung, die von den zahlreichen Skandalen, die die Dritte Republik (1870–1939) geplagt hatten, befreit war, sollte sie die Stukturen von Staat, Verwaltung und Wirtschaft erneuern und rationalisieren. Aus diesem Grund sympathisierte auch ein visionärer Stadtplaner wie Le Corbusier eine Zeitlang mit dem Pétainismus. Die Vierte (1947–1958) und die Fünfte (ab 1958) Republik haben nicht nur manche Aspekte einer technokratischen Modernisierung der Gesellschaft (wie etwa die partielle Einführung der Planwirtschaft) übernommen, sondern auch Polizisten, Magistraten, Beamte der sogenannten grands corps de l'état und Verantwortungsträger in Industrie und Bankwesen übernommen.

Auch der Status Pétains in der offiziellen Geschichtsschreibung ist typisch für das selektive Gedächtnis. Bevor Pétain der Chef des État Français wurde, war – und blieb – er der „Sieger von Verdun“. Als solcher ist er immer noch ein nationaler Held. De Gaulle legte am 11. November 1968 (zum 50. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges) Blumen auf Pétains Grab, und auch Mitterrand hat es noch in keinem Jahr vergessen ...

Die Arbeit der Historiker, die Offenlegung der Archive, die noch nicht alle zugänglich sind, so unabdingbar sie sind, haben nur geringe Effekte für das kollektive Bewußtsein. Daher der Wert offizieller Bekenntnisse und symoblischer Attitüden. Es ist zu hoffen, daß der Beschluß, aus dem 16. Juli einen Gedenktag der Beteiligung Frankreichs an der Shoa zu machen, ein Schritt in eine neue offizielle Geschichtsschreibung ist.

1) Der Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurde zum ersten Mal 1914 anläßlich des Genozids an den Armeniern geprägt. Auch das Nürnberger Gericht verurteilte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ermordung, Ausrottung, Sklavenhaltung, Deportation von Zivilbevölkerungen vor oder während eines Krieges, Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen wurden als solche betrachtet. 1964, als die im Zweiten Weltkrieg begangenen Kriegsverbrechen beinahe verjährt waren, stimmte das französische Parlament einstimmig für ein Gesetz, das die Verbrechen gegen die Menschlichkeit als unverjährbar erklärt. Seitdem wurde die Definition mehrmals vom Kassationsgericht ergänzt oder präzisiert. Der Begriff wird aber oft von Juristen wegen seiner Unbestimmtheit kritisiert.