Soziale Sicherungen brennen durch

Die Kommunen und Gemeinden sind völlig pleite, und kein Mensch weiß, wie ihre Schulden getilgt werden sollen. Der Deutsche Städtetag appellierte gestern auf einer Krisensitzung an den Bundeskanzler der Sparpakete: „So nicht, Herr Kohl!“

Lange genug sahen die Gemeinden zu, wie Bund und Länder ihre Kosten zunehmend nach unten weitergaben. Das Sparpaket der Bundesregierung brachte nun das Faß zum Überlaufen.

Gestern versammelte der Deutsche Städtetag die Geschädigten und die Gebeutelten in Bad Godesberg zur außerordentlichen Hauptversammlung – der ersten seit der Gemeindefinanzreform 1969. Die Kommunen verlangen „mit Entschiedenheit, nicht als Reservekasse des Bundes und der Länder mißbraucht zu werden“, hieß es am Ende der Tagung in der einstimmig bei einer Enthaltung verabschiedeten Resolution der knapp tausend Delegierten.

Vor allem solle die Bundesregierung die im Sparpaket „geplante Verlagerung von Sozialausgaben auf die Kommunen revidieren“.

„So nicht, Herr Bundeskanzler“, rief Norbert Burger, Präsident des Deutschen Städtetages und Oberbürgermeister von Köln, unter starkem Beifall in die überfüllte Stadthalle (siehe auch Burger-Interview auf dieser Seite).

Glaubt man den Lokalpolitikern, trifft das „Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms“ die Gemeinden knüppeldick. Ab 1994 will der Bund das Arbeitslosengeld kürzen und die Zahlung von Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre begrenzen. Danach gibt es nur noch Sozialhilfe – und die finanzieren die Kommunen. „Die finanzielle Größenordnung dieses Vorgangs“, so der Deutsche Städtetag in seiner Einladung zur Krisensitzung, „wird von den Verantwortlichen in Bundes- und Landespolitik, aber auch von der Bevölkerung noch nicht wahrgenommen.“

„Die Sozialausgaben“, hatte bereits zuvor das nordrhein-westfälische Innenministerium in seiner Schrift „Kommunen in Not“ formuliert, „entwickeln sich zu einem ,Sprengsatz‘ für die kommunalen Haushalte.“ Kosten von schätzungsweise vier Milliarden Mark, teilte Burger gestern mit, kämen somit auf die Gemeinden bereits nächstes Jahr zu. In Wilhelmshaven und Gladbeck müsse dann der gesamte Kulturetat für die zusätzlichen Sozialhilfekosten aufgewandt werden. Auf Grund der hohen Arbeitslosenquote würde dies – allen voran – die östlichen Bundesländer treffen. Laut Resolution des Deutschen Städtetages soll daher auch der bundesweite Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz neu gestaltet werden.

Auf die Seite der Kommunen schlug sich Ministerpräsident Rudolf Scharping in seiner Ansprache. Er bezeichnete die Sparpläne der Regierung als „praktische Aufkündigung dessen, was Bund und Länder im März 1993 mit dem Solidarpakt beschlossen haben“.

Nur unter starkem Murren der versammelten Delegierten in der Bad Godesberger Stadthalle konnte der parlamentarische Staatssekretär im Innenministerium, Horst Waffenschmidt, die Position der Regierung vortragen. Deren Kern lautet: „Wir sind in einer Weltsituation wie nie zuvor, deshalb kann keiner sagen: Bei mir muß alles bleiben, wie es war.“ Waffenschmidt propagierte statt dessen gemeinnütziges Arbeiten für Sozialhilfeempfänger.

„Zwangsarbeit darf keine Lösung für die kommunalen Finanzprobleme sein“, protestierte die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen gegen derartige Schritte, die in Leipzig bereits erwogen werden. Schon jetzt brennen in manchen Gemeinden die sozialen Sicherungen durch. So sollen Obdachlose in Meckenheim bei Bonn neuerdings 17 Mark monatliche Nutzungsgebühr pro Quadratmeter für ihre dürftige Unterkunft zahlen.

Ohnedies stehen die Kommunen bereits vielfach mit dem Rücken zur Wand: Mit 17,1 Milliarden Mark verzeichneten sie letztes Jahr das höchste Defizit nach dem Krieg. 1993 werden sich die Einnahmen aus der Gewerbesteuer, die 1992 noch Rekordeinnahmen erbrachte, im Zuge der Rezession um voraussichtlich 6,4 Prozent verringern. Zu alledem will die Regierung den Städten die Gewerbekapitalsteuer streichen. Auf welchem Wege auch immer: Der Bund bittet zur Kasse. Dem stehen steigende Ausgaben im Zuge gesetzlicher Vorschriften gegenüber. Drei Zentimeter Unebenheit im Gehweg reichen heute aus, um die Gemeinde haftpflichtig zu machen. Die Folge: Immer weniger Städte können ausgeglichene Haushalte vorweisen. Im Verwaltungshaushalt der Stadt Bonn klafft beispielsweise ein Loch von 28 Millionen Mark. Nürnberg fehlen 48 Millionen, in Kölns gesperrtem Haushalt sind es 200 Millionen Mark. Die Kommunen helfen sich mit der Gebührenschraube.

So verteuerten die bundesdeutschen Gemeinden im ersten Halbjahr 1993 die Gebühren für Müllabfuhr um 21 Prozent gegenüber dem Vorjahr, für Abwasser um 13,4 Prozent. Denn einen trifft die Kostenschieberei im Zuge der Sparpläne in jedem Fall: den Bürger und die Bürgerin. Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel wies denn auch am Ende des Städtetages in seiner Rede darauf hin, „daß die Summe partikularer Interessen noch lange nicht das Gesamtinteresse ergibt“. Bernd Neubacher, Bonn