„Lassen Sie mich frei, lassen Sie mich in Frieden“

■ Mielke-Prozeß vor dem Urteil: Der Angeklagte beteuert seine Unschuld, die Verteidigung plädiert auf Freispruch: Belastungszeuge nicht glaubwürdig

Berlin (taz) – Das letzte Wort hat der Angeklagte, und – überraschenderweise – er nahm es sich: „Sprechen Sie mich frei, lassen Sie mich frei, lassen Sie mich in Frieden“, appellierte Erich Mielke gestern, am vorletzten Prozeßtag, an seine Richter. Nachdem er das Verfahren über zwanzig Monate schweigend verfolgt hatte, raffte sich der 85jährige mit fester Stimme zu einer kurzen, abschließenden Verteidigungsrede auf: „Man stellt mich in der Öffentlichkeit“, so der ehemalige Minister der DDR-Staatssicherheit, „als Exponenten eines sogenannten Unrechtsregimes hin.“ Doch der Staat, „der sich selbst als Rechtsstaat bezeichnet“, kritisierte Mielke den Prozeß, „führt gegen mich ein Verfahren mit den Akten eines Regimes, dem Zehntausende Unschuldige zum Opfer gefallen sind.“ Und zur Schwierigkeit seiner Verteidigung: „Heute, 60 Jahre nach der Bülowplatz-Tat, bin ich faktisch gezwungen, gegen das Lügengebäude der Nazis meine Unschuld zu beweisen. Ist das gerecht?“ fragte der Angeklagte. Und dann: „Ich habe das, was man mir vorwirft, nicht getan.“

Zuvor hatte Verteidiger Stefan König – detaillierter als sein Mandant – die Unverwertbarkeit der Aussage des Hauptbelastungszeugen sowie deren Unglaubwürdigkeit zu begründen versucht. Es handele sich bei den erhaltenen Akten um einen „selektiven Bestand“, in dem vor allem Ermittlungsunterlagen aus der Weimarer Zeit fehlten. Ob Akten gezielt von den Nationalsozialisten vernichtet wurden, ließ König dahingestellt. Doch „ein faires Verfahren“ sei auf Grundlage des überkommenen Aktenbestandes „nicht zu gewährleisten“.

Aber auch im konkreten, dem Hauptbelastungszeugen Johannes Broll, gelang es König, die Zweifel an einer rechtstaatlich-korrekten und damit verwertbaren Aussage zu untermauern. Man könne nicht von der Freiwilligkeit der Aussage des ehemaligen Kommunisten, der später zu den Nazis übergelaufen war, ausgehen. Dieser habe vielmehr zum Zeitpunkt der Aussage nachweislich „unter dem Eindruck der Folterung Nahestehender“ gestanden. Wahrscheinlich sei Broll selbst durch Mißhandlung zu der Aussage gezwungen worden. „Schlüsse“, so König „die zu einer Verurteilung führen, können aus der Aussage nicht gewonnen werden.“

An mehreren Punkten stellte König dann die Glaubhaftigkeit der Brollschen Beschuldigung in Frage. Weder paßten seine Beschreibung des Tatherganges zum Obduktionsgutachten der beiden erschossenen Polizeibeamten noch habe Broll von dem Ort aus, von dem er die Schüsse beobachtet haben will, den Tatort wirklich einsehen können. Selbst das Schwurgericht 1934 sei Aussagen Brolls nicht gefolgt. Und dieses Gericht habe sich – anders als die heute urteilende Kammer – zumindest „einen Eindruck vom Zeugen Broll bilden“ können.

Abschließend fragte König das Gericht, ob es eine Verurteilung allein auf den in Moskau aufgefundenen Lebenslauf Mielkes, in dem dieser sich der Teilnahme an den Bülowplatz-Morden bezichtigt hatte, stützen wolle. Auch hier seien die Umstände, unter denen die Selbstbezichtigung entstanden sei und der Zweck, dem sie möglicherweise diente, nicht mehr zweifelsfrei zu klären.

König forderte Freispruch. Die Staatsanwaltschaft hingegen hält Mielke der Ermordung der beiden Polizisten Paul Anlauf und Franz Lenk am 9.August 1931 auf dem Berliner Bülowplatz für überführt. Ihre Forderung: Lebenslänglich. Am kommenden Dienstag fällt das Urteil. Matthias Geis