Blaue Briefe an den Schulsenator

■ Der Arbeitskreis "Neue Erziehung" kann aus Geldmangel keine Schulbriefe mehr verteilen / Seit 14 Jahren kostenlos an Eltern verschickt / Landeselternausschuß und GEW fordern Fortführung des Projekts

Die achtjährige Anna kommt statt um sechs Uhr eine Stunde später nach Hause und reagiert auf Nachfrage der Eltern nur mit muffligem Schulterzucken. Tim streitet sich mit seiner Mutter über Mathematikaufgaben und bezeichnet anschließend das Mittagessen als „scheußlichen Fraß“. Daß trotziges und aggressives Verhalten von Kindern häufig etwas mit der schulischen Situation zu tun hat, ist vielen Eltern nicht klar. Weil ihnen oftmals eine pädagogische Orientierungshilfe fehlt, verteilt der Arbeitskreis Neue Erziehung e.V. (ANE) an die Erziehungsberechtigten seit rund 14 Jahren kostenlose „Schulbriefe“ an Eltern von Vor- und GrundschülerInnen. Diese langjährige Tradition ist jetzt bedroht – seit einem halben Jahr fehlt dem Arbeitskreis das nötige Geld für die Weiterführung des Projektes.

1993 erhielt ANE Zuwendungen von der Senatsverwaltung für Jugend und Familie von rund 770.000 Mark. „Davon haben wir bisher 130.000 Mark jährlich für die Schulbriefe verwendet“, sagt ANE-Mitarbeiterin Gisela Brandt. Eine saftige Mieterhöhung des Büros in der Kreuzberger Markgrafenstraße und gestiegene Druck- und Portokosten machten den MitarbeiterInnen Anfang des Jahres einen Strich durch ihre Kalkulation: Sie mußten die Verteilung der Schulbriefe – Auflage 40.000 – vorerst einstellen, sonst hätten Miete und Personalkosten nicht mehr bezahlt werden können. „Pädagogisch ist das eine Katastrophe, aber wir hatten keine andere Wahl“, sagt Gisela Brandt bedauernd. Ziel des vierseitigen DIN-A-4-Faltblattes, das zwei- bis viermal im Jahr für verschiedene Altersklassen erscheint, sei es, so Brandt, „SchülerInnen nicht nur als Individuum, sondern als Gruppe zu sehen“. „Wir wollen den Eltern Schwellenängste nehmen“, sagt Gisela Brandt, „und Mut geben, sich stärker für die Interessen der Kinder und Eltern einzusetzen.“

Auch der Landeselternausschuß und der Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), Erhard Laube, setzen sich vehement für den Erhalt der Briefe ein. So möchte Erhard Laube zukünftig auch die östlichen Bezirke miteinbeziehen – bisher wurde nur im Westteil verteilt. Er hält die Faltblätter für eine „sinnvolle und billige Gewaltprophylaxe“. Der GEW-Vorsitzende fordert deshalb einen Etat von 180.000 Mark jährlich, um die Schulbriefe aufgrund der Vereinigung zu überarbeiten und in ganz Berlin verteilen zu können. „Das ist eine lächerliche Summe“, sagt er, nur der politische Wille müsse dasein. Jugendsenator Thomas Krüger (SPD), der den Schulbriefen ebenfalls „eine hohe pädagogische Bedeutung“ zumißt, setzt sich zwar für deren Erhalt ein, kann aber im Moment keine „definitive“ Finanzierungszusage geben. Falls die Jugendverwaltung aber positiv über die Schulbriefe entscheidet, muß, so Thomas Krüger, an anderer Stelle im Zuwendungsbereich die Summe eingespart werden. Julia Naumann