Abgewandte, offene Welt

■ Seismogramm und Meditationen: Über zwei Bücher des norwegischen Schriftstellers Paal-Helge Haugen

Dieses Buch nimmt man behutsam in die Hand wie ein unverhofft gefundenes Familienalbum. Lange hatte es auf dem Grund einer alten Truhe gelegen, verschollen auf irgendeinem dämmrigen Dachboden zwischen vermotteten Kleidern und allerlei eingestaubtem Krimskrams. Man blättert vorsichtig darin, und schon nach wenigen Seiten werden die Worte zu Bildern, zu Photographien aus einer Zeit, als jede Belichtung noch eine kleine Ewigkeit dauerte und das Gesicht die Spannung während des Stillhaltens verrät. Unscharf und sepiagetönt steht ein scheues Mädchen, winzig vor dem geduckten Gehöft und den steilen Bergen darüber; ein blasser Schemen im Schnee vor der weißgetünchten Holzwand des Sanatoriums. So vielleicht sah sie aus. Oder so stellt man sie sich vor. Anne.

Von der einsetzenden Pubertät dieses jungen Mädchens, das um die Jahrhundertwende in der norwegischen Provinz aufwächst, erzählt dieses kleine Album, von ihrer sensiblen Empfänglichkeit – und von der alles zersetzenden Tuberkulose. Eine jäh abfallende Lebenskurve, die der 1945 geborene Schriftsteller Paal-Helge Haugen da beschreibt, keine penible, gar larmoyante Krankengeschichte, kein Sozialfall des fin de siècle. Vielmehr ein Seismogramm, in welchem Haugen die ersten unterschwelligen Regungen der Sexualität ebenso feinfühlig und präzise registriert, wie er später mit distanziertem, ja diagnostischem Blick die schmerzhaften Eruptionen und den tödlichen Verlauf der Krankheit festhält. Dies geschieht in einer nahezu lyrischen Konzentration und Dichte und schlägt sich in kurzen Prosastücken nieder, fragmentarischen Notaten, denen Haugen auch fremde Texte untermischt, moralische Merksätze aus einem Katechismus zitiert oder Paragraphen aus einem alten medizinischen Lehrbuch. Sogar einen Totenschein stellt er aus.

Vollkommen in der Beobachtung der Natur und ihrer Umgebung aufgehend, geschehen die inneren Veränderungen des Mädchens am Rande ihrer eigenen Wahrnehmungen, gleichsam in einem vorbewußten Zustand: „In der Bucht vier Jungen mit nacktem Rücken / und schwarzen Hosen, kauernd im Sand / Ich sehe einen weißen Körper im Wasser. Seine / Arme, seine Hüften in grünem Wasser, gleiten / dort draußen wie ein schmaler Fisch. / Das Wasser gekräuselt von einem plötzlichen Wind. Ihre Stimmen erreichen mich.“ Mit den letzten beiden Sätzen bekommt alles eine doppelte Perspektive: Zwischen Außenwelt und Innenleben stellt sich ein Zusammenklang her, und in der akustischen Sensation liegt bereits der Unterton einer sinnlichen Berührung.

Auch die Entdeckung der Krankheit geschieht auf ähnliche Weise, eindringlich und doch aufs sinnlich Wahrnehmbare reduziert: „Die holprige Fläche ist fleckig und matt. Ich hole / die Kerze heran. Ich stehe hier. Alle Schatten kriegen / schärfere Ränder. / Das Weiße sammelt sich, bewegt sich über dem Grund / des Spiegels. Sehe ich meinen Mund? Näher jetzt. // Ein roter Streifen rinnt träge am Glas herunter. Darin bleiche Augen.“ Das ist kein weitschweifiges und ironisches Erzählen von der hohen Warte eines Zauberberges, viel eher eine nüchterne Selbstbeobachtung, eine spröde, ebenerdige Annäherung an jenen endgültigen Zustand namens Tod.

Auch in seinem soeben auf deutsch erschienenen Gedichtzyklus „Meditationen über Georges de La Tour“ hat sich an den vorherrschenden Themen Paal-Helge Haugens nichts gändert. Das absurde Leben und der unbegreifliche Tod, das in der Welt, in den Worten, im Körper eingesperrte Ich – und die Kunst als Vehikel ei

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ner Absetzbewegung aus der „Ringmauer“ der Wirklichkeit:

„Sich fortspielen / vom Gefängnis des Körpers / ein Mörser aus Erinnerung / Verbrannte Städte Flimmernde Lust / Schatten Welke Kinderkörper / Eine Fuhre Tod // Die Gnade herabspielen über dich, über uns / Ein Honiglicht // für deine gegerbte Haut, für dich / diese sacht entfaltete Geographie / aus Wunden und Musik“, heißt es dort über den „Drehleierspieler“.

Der Maler dieses „Honiglichtes“ war der Lothringer Georges de La Tour, Schöpfer schwer zu bestimmender Innenräume, meist nur erhellt von einer einzigen Kerze, die gleichwohl ein überirdisches Licht abgibt, einen mystischen Schein über die Szenerie und die Versunkenheit der Personen legt.

Mit seiner ausgesprochenen Hell-dunkel-Metaphorik bezieht sich Haugen auf einige dieser Bilder, sie dienen ihm als kontemplativer Ausgangspunkt für seine „Meditationen“, wobei sich seine Perspektive allerdings extrem weitet: sozusagen vom Mikroorganismus zur Makrobiotik („Die Seele wiedererkennen / in einer kriechenden Form / des Kambriums“), vom gnadenlosen Ende der Geschichte zur Gnadenbezeugung der Schöpfung.

Weltabgewandt und weltoffen ist Haugen, der im südnorwegischen Setesdal auf einem Hof lebt, den seine Familie seit dem 17. Jahrhundert bewohnt – ein Traditionalist und ein Avantgardist zugleich, ein Pessimist gegenüber dem Weltlauf und ein Hoffender gegenüber jedem individuellen Versuch. Er übertrug chinesische Gedichte, schätzt Dante und Benn, Enzensberger und die Wiener Gruppe. Vornehmlich als Lyriker hervorgetreten, schrieb er daneben auch für die Bühne: Theaterstücke, Libretti, zuletzt ein Oratorium. In seinen neueren Büchern bevorzugt er für seine Gedichte zwar nach wie vor die offene Form. Trotzdem sind es geschlossene Sequenzen, thematisch dicht und vielschichtig, mit einem ausgeprägten Sinn fürs Visuelle und für den von der Sprache geschaffenen Raum. Am besten kennzeichnen ihn ein paar Verse des schwedischen Kollegen Tomas Tranströmer, mit dem Haugen einiges verbindet: „Es ist wie ein Gebet zur Leere. / Und die Leere kehrt uns ihr Gesicht zu / und flüstert: / ,Ich bin nicht leer, ich bin offen.‘“ Thomas Fechner-Smarsly

Von Paal-Helge Haugen sind auf deutsch, von Siegfried Weibel übertragen, im Kleinheinrich-Verlag, Münster, erschienen:

„Das überwinterte Licht“. Gedichte. Mit Zeichnungen von Jan Groth, 50 DM

„Anne“. Roman. Mit Aquarellen von Jens Johannessen, 50 DM

„Meditationen über Georges de La Tour“. Mit Bildern von Olav Christopher Jenssen, 120 DM

Außerdem im „Schreibheft 41“: Alphabete an der Unterseite der Geschichte – Der Lyriker Paal- Helge Haugen, 17 DM

Paal-Helge Haugen liest morgen, 21.10., um 20 Uhr im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße