■ Jocelyn McCalla, Leiter der „National Coalition For Haitian Refugees“, zum Embargo gegen Haiti und zur Rolle der USA
: Gegen Frachtschiffe und Flüchtlinge

Die „National Coalition For Haitian Refugees“ wurde 1982 von amerikanischen Bürgerrechtsaktivisten aus Protest gegen die Haiti- Politik Ronald Reagans gegründet. In den letzten Jahren hat sich die von Jocelyn McCalla geleitete, in New York ansässige Menschenrechtsorganisation vor den US-Gerichten, aber auch als politische Lobby für haitianische Flüchtlinge eingesetzt, die nach dem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide geflohen sind.

taz: Vor wenigen Stunden ist erneut ein Öl- und Waffenembargo gegen Haiti in Kraft getreten. Sehen Sie irgendwelche Anzeichen, daß dies die Kompromißbereitschaft der Machthaber unter General Raoul Cédras befördert?

Jocelyn McCalla: Absolut nicht. General Cédras verfolgt eine ganz andere, aus seiner Sicht durchaus raffinierte Strategie: Nachdem er in den letzten Wochen Blut vergossen sowie die einheimische Bevölkerung und die Ausländer in Haiti terrorisiert hat, setzt er nun auf eine PR-Kampagne. Nachdem sich niemand mehr traut, öffentlich seine Meinung zu sagen oder gar Interviews zu geben, wählt Cédras nun unter den inländischen und ausländischen Medienvertretern, die ja alle nach Informationen und Statements gieren, die ihm genehmen Gesprächspartner aus. Das drängt die Regierung von Premierminister Robert Malval (von Aristide designiert, vom Parlament Ende August gewählt, Anmerkung der Redaktion) noch weiter in die Isolation.

Was können Handelssanktionen dann überhaupt bewirken?

Sie würden etwas bewirken, wenn die herrschende Elite sich in irgendeiner Weise mit der Zukunft oder dem Wohlergehen des Landes identifizieren würden. Doch bei dieser Clique handelt es sich schlicht und einfach um kaltblütige Mörder, die um nichts anderes kämpfen als den uneingeschränkten Zugriff auf staatliches Vermögen zur uneingeschränkten Vermehrung ihres eigenen Reichtums. Das ist ihre einzige Sorge. Das Befinden des Durchschnittsbürgers interessiert sie ebenso wenig wie die wachsenden Umweltschäden in Haiti oder der Umstand, daß es angesichts der ständigen Verschlechterung der Lebensbedingungen Jahrzehnte dauern wird, um die Mehrheit der Bevölkerung auf einen akzeptablen Lebensstandard zu bringen. Sie werden sich solange wie möglich an der Macht halten, zumal sie sich in den letzten Monaten mit Öl und anderen Vorräten versorgen konnten. Die Ölvorräte reichen für rund sechs Monate.

Hatte Cédras je vor, sich an das Abkommen von Governor's Island vom 3. Juli zu halten, das seinen Rücktritt und die Rückkehr von Präsident Aristide regelt?

In dem Moment, als er nach der Unterschrift wieder ins Flugzeug nach Haiti stieg, war klar, daß er sich nicht daran halten würde. Er begann prompt, über eine Terrorkampagne im eigenen Land das Abkommen zu sabotieren. Die Zahl der politischen Morde ist seither enorm in die Höhe geschnellt.

Das US-Außenministerium beziffert die Zahl der Toten in Haiti seit dem Abkommen auf 300 bis 400. Viele halten das für bewußte Untertreibungen. Haben Sie andere Zahlen?

Nein. Wir haben keine anderen Zahlen. Der Unterschied ist vielmehr, daß wir im Gegensatz zur US-Regierung davon ausgehen, daß die Mehrheit dieser Morde politisch motiviert ist. Das US State Department behauptet statt dessen, daß höchstens 10 Prozent der Todesfälle auf politisch motivierte Gewalt zurückzuführen sind. Das hat natürlich einen ganz offensichtlichen Grund: Die Clinton-Administration muß eine Asylpolitik legitimieren, die nicht nur unter moralischen Gesichtspunkten absolut verwerflich ist.

Wie müßte die Haiti-Politik der USA und der UNO aussehen? Man hat zwar wieder einmal Sanktionen verhängt, doch wieder präsentiert man sich bar jeder Eskalationsmöglichkeiten, falls die Sanktionen nichts nützen.

Die internationale Völkergemeinschaft muß mit aller Kraft die Regierung Malval unterstützen. Damit meine ich folgendes: Man sollte sich eines wichtigen Kapitels der Bürgerrechtsgeschichte in den USA erinnern. Es gab eine Phase, da hat Martin Luther King in den Südstaaten Protestaktionen und Demonstrationen organisiert, um dort demokratische Verhältnisse durchzusetzen. Diejenigen, die damals in diesen Teilen des Landes an der Macht waren, haben versucht, das mit allen Mitteln zu verhindern. Also hat man von Washington aus Bundestruppen geschickt, um die Bürgerrechtsaktivisten zu schützen. Jetzt, dreißig Jahre später, leben wir, wie es so schön heißt, in einem global village. Also ist es doch vorstellbar, daß eine solche Strategie auch unter der Leitung internationaler Institutionen durchgeführt werden kann. Haiti ist gerade mal eine Flugstunde von den USA entfernt. Mit einer schnellen militärischen Intervention ließe sich das Abkommen von Governor's Island viel eher realisieren als durch ein Handelsembargo, das General Cédras gestattet, seine Medienrolle als good guy, als mißverstandener, professioneller Militär, auszubauen.

Hat Cédras aus dem Beispiel Somalia die Konsequenz gezogen, daß von den USA zur Zeit nichts zu befürchten ist?

Mit Sicherheit. Cédras und seine Leute haben durchaus begriffen, daß sich die Situation nach dem Debakel der USA in Somalia und die Angst der Amerikaner vor weiteren Bildern toter Soldaten, die durch die Straßen geschleift werden, ausnützen läßt. Und das haben sie ganz einfach bewerkstelligt, indem sie 200 Leute mit Rum und Drogen, Macheten und ein paar Maschinengewehren versorgt haben, die am Hafen von Port-au- Prince das Anlegen des US- Kriegsschiffes verhindert sowie ein paar Journalisten und Angehörige der US-Botschaft eingeschüchtert haben. Das wirkt, denn die Journalisten vermittelten zu Hause genau den Eindruck, den Cédras schaffen wollte: daß es für Amerikaner in Haiti gefährlich ist. Und in den USA heißt es dann: „Was sollen wir in einem Land, in dem man uns gar nicht haben will.“

Nun muß man der Tatsache Rechnung tragen, daß Haiti nicht zu den Südstaaten der USA zählt und es im US-Kongreß massiven Widerstand gegen jedes weitere militärische Engagement in Haiti gibt – u.a. aus Angst, man könnte in einen ähnlichen Stadtguerilla- Krieg verwickelt werden wie in Mogadischu. Was entgegnen Sie auf solche Einwände?

Es gibt zwei entscheidende Unterschiede zu Somalia: Die Anhänger von Raoul Cédras sind ausgesprochen tapfer und entschlossen, wenn es darum geht, unbewaffnete Menschen zu terrorisieren. Sie sind weitaus weniger kampfesmutig, wenn sie sich plötzlich mit einer gut ausgerüsteten Truppe konfrontiert sehen. Cédras verfügt über eine Armee von Schlägern ohne Disziplin. Sie würde sich so schnell auflösen, wie sie zusammengeholt worden sind. Zweitens gibt es in Haiti eine demokratisch legitimierte Regierung – die Regierung Malval. Dieses Kabinett setzt sich aus den engagiertesten und couragiertesten Leuten zusammen, die ich je getroffen habe. Dieser Regierung muß man die Chance verschaffen, ihre Arbeit zu beginnen und dieses Land zu übernehmen.

Mit welchen Argumenten kann man Interventionsgegner im US- Kongreß, aber auch US-Präsident Clinton überzeugen?

Das Hauptargument hat Bill Clinton längst selbst erkannt: Solange in Haiti nicht Menschenrechte, politische Stabilität und wenigstens ein paar ökonomische Fortschritte garantiert sind, wird man in den USA mit neuen Flüchtlingsströmen rechnen müssen – trotz der Blockade durch Kriegsschiffe. Die USA könnten sich in absehbarer Zeit in einer höchst heiklen Situation finden: Dann nämlich, wenn auch die Situation in Kuba explodiert und eine weitaus größere Zahl an Kubanern versucht, in die USA zu fliehen. Die Frage ist, ob Washington dann immer noch mit zweierlei Maß vorgehen kann, indem es die Kubaner ins Land läßt, die Haitianer aber abschiebt. Dabei muß man natürlich sehen, daß die gestern von US- Kriegsschiffen errichtete Seeblockade, an der sich nun auch Frankreich und Argentinien beteiligen, zwei Funktionen hat: sie soll verhindern, daß Frachtschiffe in Haiti anlegen; sie soll aber auch verhindern, daß Flüchtlingsboote hinauskommen. Es gilt weiterhin Clintons Politik, daß Flüchtlinge aus Haiti, die auf hoher See abgefangen werden, zurückzuschicken sind. Interessant wird in diesem Fall, wie sich die Besatzungen der kanadischen Schiffe verhalten. Werden sie die US-Asylpolitik mit exekutieren, oder nehmen sie die Boat people auf?

Wie wird Ihren Informationen zufolge Bill Clinton dieser Tage auf Haiti wahrgenommen? Ist er immer noch der potentielle Retter, als der er einst auch für die Menschen in Bosnien galt? Oder macht sich Resignation und Enttäuschung breit?

Die Haitianer klammern sich immer noch an die Hoffnung, daß Clinton ihnen am Ende helfen wird. Allerdings ist diese Hoffnung bereits zweimal erschüttert worden. Zuerst im Januar dieses Jahres, als Clinton sein Versprechen brach, die Flüchtlingspolitik gegenüber Haitianern zu ändern, und statt dessen Haitianer weiterhin auf offener See abgefangen und zurückgeschoben wurden. Dann vor wenigen Tagen, als er das Navy-Schiff „Harlan County“ mit US-amerikanischen und kanadischen Offizieren an Bord vor dem Hafen von Port-au-Prince abziehen ließ, ohne vorher Premierminister Malval oder Präsident Aristide überhaupt von diesem Rückzug zu informieren. Aber die Menschen in Haiti halten, vielleicht aller Vernunft zum Trotz, an Bill Clinton fest. Sie können nicht glauben, daß die einzige Supermacht in dieser Welt Angst bekommt, weil ein paar Dutzend Schläger am Hafen von Port-au-Prince in die Luft schießen. Interview: Andrea Böhm