Ein Autoreifen wird zum Bett

In Angolas Bürgerkrieg sind Tausende von Kindern auf sich allein gestellt / Jungen leben von Abfällen aus Hilfsflugzeugen, Familien verlieren sich / Selbst Krücken sind Mangelware  ■ Aus Luanda Willi Germund

Irgendwo staubte Hamilton einen nagelneuen blauen Drillich ab. Irgendwie schummelte er sich auf die Landebahn des Flughafens der angolanischen Hauptstadt Luanda. Der 13jährige Junge will nach Hause – zurück in die Stadt Luena, die seit Anfang des Jahres von der Rebellenbewegung Unita belagert und beschossen wird und aus der er gemeinsam mit seinem älteren Bruder entkommen ist. Das Motiv für die Flucht nennt der Junge kurz und bündig: „Fome e guerra“ – Hunger und Krieg. Die Mutter blieb damals zurück, weil sie keinen Platz in einem Flugzeug finden konnte. Jetzt will Hamilton wieder nach Hause: zurück zur Mutter in die 400 Kilometer entfernte Stadt.

Das Inferno von Luena mit den dahinsiechenden Menschen, der Gefahr von Tretminen und der tödlichen Bedrohung durch Granaten erscheint dem schmächtigen Jungen nach der Hölle von Luanda wie eine Verheißung. Zu erreichen ist sie nur durch die Luft – die Straßen sind wegen des Krieges blockiert. Hamilton ist ganz auf sich gestellt. Sein Bruder wurde während einer der Zwangsrekrutierungen in der Hauptstadt Angolas aufgegriffen und in eine Uniform gesteckt.

Wie Tausende von anderen Kindern in Luanda schlägt Hamilton sich vorerst alleine durch. Sein kostbarster Besitz: eine mit Schuhriemen um den Hals gebundene Plastikflasche. Auf allen vieren kriecht Hamilton damit zwischen den Reifen der Lastwagen herum, die Säcke voller Mais, Bohnen und Mehl zu den Frachtflugzeugen des katholischen Hilfswerks Caritas und des „World Food Program“ (WFP) bringen.

Jede einzelne Bohne sammelt Hamilton ein, jedes Korn verschwindet in der Plastikflasche. „Die Marktfrauen tauschen die Sachen gegen ein Brot oder etwas anderes zum Essen ein,“ sagt der Junge mit den kurzgeschorenen Locken. Nachts schläft er in einem der ausrangierten Reifen, die neben den Landebahnen im Lehm liegen. Hamilton teilt sich die Schlafstatt mit einem Neunjährigen: Carlos aus der Provinz Moxico.

Kraftlos baumelt ein dünnes Bein aus dessen verschmuddelter kurzer Hose. Auch Carlos ist mit einer Flasche bewaffnet und sucht nach Getreideresten, die beim Umladen in die Flugzeuge herunterfallen. Wieselflink huscht er trotz seiner Behinderung umher. Aber die Konkurrenz ist groß und stärker. Es sind ein paar Dutzend Jungen, die ihr Leben mit den Brosamen der Hilfsoperationen für das Landesinnere Angolas fristen.

„Das sind alles nur Gatunes,“ winkt ein Polizist ab, der teilnahmslos zuschaut, wie eines dieser Kinder von zwei Flughafenoffiziellen getreten und geschlagen wird. Der Junge krümmt sich und bleibt einfach liegen, bis die Tritte und Schläge endlich aufhören. Die Gatunes, die kleinen Banditen, sollten froh sein, überhaupt am Flughafen geduldet zu werden, drückt das Mienenspiel des Polizisten aus. Diese Duldung fordert ihren Preis: Manchmal müssen Hamilton und Carlos die Ausbeute eines ganzen Tages an einen Polizisten abliefern, dem gerade einfällt, daß er etwas für den Abendbrottisch braucht.

An diesem Tag aber winkt Hamilton das Glück. Von irgendwo aus der Provinz des Landes kommt ein Flugzeug mit Passagieren an. Eine mit Gepäck überladene Frau läßt sich von dem 13jährigen helfen, die Koffer und Taschen zum Ausgang zu schleppen – und sie bezahlt: Ein paar tausend Kwanzas, den Gegenwert von ein paar Pfennigen immerhin. Carlos, der Krüppel, kann dabei nicht mithalten und hat sich auf andere Arten von Nebeneinkünften verlegt. Aus seiner Hosentasche zaubert er eine Handvoll Münzen – ein Markstück, ein paar US-Cents, ein paar Rubel und 1.000 italienische Lira. „Amigo“, fleht Carlos, „kannst Du mir bitte was davon tauschen?“

Drei der knapp zehn Millionen Angolaner gelten nach offiziellen Statistiken inzwischen als Vertriebene. Die meisten flüchten aus den Provinzen im Landesinneren vor den Auseinandersetzungen zwischen der Rebellenbewegung Unita und der Regierung an die Küste Angolas oder in die Hauptstadt. Die Armenviertel Luandas quellen über, auch dort herrscht Hunger.

Not leidet fast das ganze Land: Nach UNO-Schätzungen sind fast zwei Millionen Menschen vom Hungertod bedroht - und es gibt kaum Hoffnung auf einen baldigen Waffenstillstand in dem Bürgerkrieg, der seit 18 Jahren in Angola tobt.

Die Bevölkerung sucht Schutz, wo immer sie ihn finden kann. Selbst in der Bauruine eines Hochhauses im Stadtzentrum von Luanda haben sich mittlerweile Familien eingerichtet. Ein zehnstöckiges Gebäude ohne Geländer, Wasser und Sanitäreinrichtungen. Es grenzt an ein Wunder, daß bisher erst ein Kind hier tödlich verunglückt ist. Es ertrank in dem Loch mit Abwässern unter dem Hochhaus.

Flüchtlinge, die es aus den umkämpften Regionen in die Hauptstadt geschafft haben, sind oft von ihren Angehörigen getrennt worden. „Wenn die Eltern gerade nicht im Krankenhaus waren, als die Evakuierung stattfand, kommen die Kinder aus den Provinzen alleine hier an,“ erzählt eine Krankenschwester im Hospital „Jorginho Machel“. Eine plötzliche Feuerpause, ein unerwartetes Flugzeug, die nicht vorhergesehene Möglichkeit einer Rettung – und ganze Familien werden im Chaos des Bürgerkriegs möglicherweise für immer zerrissen. In einer Ecke der Klinik rutschen sieben junge Patienten aus der Stadt Menongue herum, die neun Monate von der Außenwelt abgeschnitten war. Den meisten fehlt ein halbes Bein, andere verloren auch noch einen Arm, als sie in ihrer Heimatstadt auf Minen traten. Krücken gibt es im Krankenhaus nicht, die Kinder kriechen auf dem Boden.

Die Evakuierung nach Luanda hat ihnen vermutlich das Leben gerettet. Das Krankenhaus in Menongue erhielt vor 18 Monaten zum letzten Mal eine Medikamentenlieferung. Im Krankenhaus von Luanda konnten die zerfetzten Gliedmaßen zumindest sachgerecht amputiert werden. Doch die Zukunft der Kinder ist ungewiß. Nach Abschluß der Behandlung werden sie in ein Gästehaus in der Nachbarstadt Viana gebracht. Mit etwas Glück erhalten sie dort Prothesen oder Krücken. Und dann werden sie auf die Straße gesetzt – ob sie jemals den Heimweg schaffen, ist ihre Sache.

Hamilton ist am Flughafen plötzlich nicht mehr aufzufinden. Carlos zuckt nur ratlos mit den Schultern. Er weiß auch nicht, wo sein Kumpel geblieben ist. Im Reifen schläft schon ein anderer Junge. Vielleicht hat Hamilton es ja geschafft, sich in ein Flugzeug zu schmuggeln und nach Hause zu fliegen – weg aus der Hölle von Luanda, zurück in das Inferno von Luena.