Nato tief zerstritten

■ Verteidigungsminister tagen in Travemünde / Thema: Bosnien

Berlin (taz) – Ohne gemeinsame Perspektive für die Zukunft und mit tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten in allen wesentlichen Fragen begannen die Nato- Verteidigungsminister am Dienstag abend in Travemünde ihre diesjährige Herbsttagung. Da mit Beschlüssen nicht zu rechnen ist, ja noch nicht einmal mit Vorentscheidungen für den Gipfel der Nato-Regierungschefs im Januar 94, wurde die in der Vergangenheit stets der Atomwaffenplanung der Allianz gewidmete Tagung von Gastgeber Bundesverteidigungsminister Volker Rühe vorab zu „informellen Beratungen“ herabgestuft.

Nach der jüngsten Kritik von US-Präsident Clinton an der Bosnien-Politik Frankreichs und Großbritanniens dürfte es in Travemünde zu einer sehr kontroversen Diskussion über die Rolle des Westens in der südosteuropäischen Krisen- und Kriegsregion kommen. Der einst von Generalsekretär Wörner und anderen Vertretern der Allianz vollmundig angekündigte Einsatz einer Nato- Truppe, die im Auftrag der UNO ein etwaiges Bosnien-Abkommen durchsetzen und überwachen soll, ist immer mehr in Frage gestellt. Bei den nunmehr seit Monaten laufenden internen Beratungen hat sich noch immer keines der 16 Nato-Mitglieder verbindlich bereit erklärt, Soldaten für die auf 50.000 Mann geplante Truppe abzustellen.

Umstritten ist nach wie vor auch die Finanzierung einer solchen Mission, deren Kosten allein für das erste Jahr bei der UNO auf vier Milliarden US-Dollar veranschlagt werden. Während die USA auf dem Oberbefehl der Nato – und damit voraussichtlich eines US- Generals – über die Bosnien- Truppe bestehen, will sich Frankreich nur unter einem UNO-Oberkommando beteiligen. In Allianzkreisen gilt es zudem als immer wahrscheinlicher, daß die USA ihre Zusage zur Entsendung von 25.000 GIs demnächst offiziell zurückziehen. Dann werde auch kein anderer Nato-Staat Soldaten in Bosnien stationieren.

Keine gemeinsame Linie gibt es auch in der Frage der am stärksten von den Deutschen und von Wörner befürworteten Ost-Erweiterung des Bündnisses zumindest um Polen, Ungarn und die Tschechische Republik. Die traditionell schon massiven Bedenken gegen einen solchen Schritt in Washington, London und den meisten anderen Nato-Hauptstädten haben sich nach den jüngsten Ereignissen in Moskau noch verstärkt.

Mit dem Fernbleiben des französischen Verteidigungsministers Leotard, den Rühe ausdrücklich nach Travemünde eingeladen hatte, ist auch zunächst einmal der Versuch gescheitert, Frankreich wieder in die militärische Integration der Nato einzubinden, aus der es 1966 ausgeschieden war. Meinungsverschiedenheiten zwihen Westeuropäern und den USA gibt es schließlich über die künftige Struktur der Nato-Streitkräfte und über die Frage, ob Nato-Streitkräfte in Europa auch ohne Beteiligung der USA eingesetzt werden können. Dies hatte Rühe letzte Woche vor der Kommandeurstagung der Bundeswehr in Mainz gefordert. Andreas Zumach