Prügel für Seehofers Meldepflicht

Ärztekammer-Präsident Vilmar moniert „politischen Aktionismus“ des Bonner Ministers / Deutsche Aids-Hilfe: BGA-Skandal wird instrumentalisiert, um Aids-Politik zu revidieren  ■ Von Manfred Kriener

Berlin (taz) – Die von Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) erwogene Meldepflicht für HIV-Infektionen wird von allen Seiten scharf kritisiert. Aus der Ärzteschaft, von deren Zustimmung Seehofer seine Entscheidung abhängig machen will, kommen ebenfalls überwiegend ablehnende Äußerungen.

„Unsinn wird sofort beschlossen, sachgerechte Lösungen dauern etwas länger“, kommentierte der Präsident der deutschen Ärztekammer, Karsten Vilmar, den Seehofer-Vorstoß ungewohnt bissig. Vilmar weiter: Hier werde versucht, mit politischem Aktionismus eine Scheinsicherheit zu erzeugen. Es lägen keine neuen Erkenntnisse vor, die eine Meldepflicht rechtfertigen.

Der Präsident der Berliner Ärztekammer, Ellis Huber, bezeichnete die Meldepflicht als „Quatsch“. Er warf Seehofer vor, die durch den Blutskandal entstandenen Massenemotionen auszunutzen, um „Strafaktionen durchzuziehen“. Es gebe in Deutschland keine andere Infektionskrankheit, über die man so gut Bescheid wisse wie bei Aids, sagte Huber der taz, die bisherige Labormeldepflicht reiche völlig aus.

Unterdessen legt Seehofers Sprecher Hartmut Schlegel Wert darauf, daß sich die Meldepflicht noch im „Stadium des Erwägens“ befinde. Es sei keineswegs sicher, daß sie kommen werde. Eine namentliche Meldepflicht wird offenbar auch von Seehofer abgelehnt. Wenn überhaupt, sollen die Ärzte anonymisierte Daten an das Berliner Aids-Zentrum melden. Diese Daten sollen dann so codiert sein, daß notfalls auf den Patienten zurückgegriffen werden kann, sagte Schlegel. Kritiker fragen sich, was gegenüber dem jetzt praktizierten System der Labormeldepflicht gewonnen wird. Bisher melden die Labors die Zahl der bei ihnen durch Antikörpertests ermittelten HIV-Infektionen. Aktueller Stand: Nach dem 3. Quartal 1993 waren in Deutschland 60.189 Infektionen registriert. In dieser Zahl sind eine unbekannte Zahl von nicht erkannten Doppelmeldungen enthalten, weil viele Infizierte ihren Test bei anderen Labors wiederholen. Die genaue Zahl der Infizierten kann ohnehin nicht ermittelt werden, weil viele Betroffene nicht zum Test gehen.

Auch im Deutschen Aids-Zentrum des BGA wird, wie die taz erfuhr, die Meldepflicht abgelehnt. Das BGA hat damit bereits Erfahrungen gemacht. Die – ebenfalls vorgeschriebene – Meldung der Geschlechtskrankheiten funktioniert nämlich nicht. Und niemand, so hieß es gestern im BGA, könne die Ärzte zur Meldung zwingen, weil sie niemand kontrollieren könne. Bei den Geschlechtskrankheiten werden dem BGA – trotz Meldepflicht – gerade noch zehn Prozent der Fälle angezeigt. Entsetzt über den Seehofer-Vorschlag ist auch die Deutsche Aids-Hilfe. Sie befürchtet, daß die aktuelle Diskussion über den „BGA-Skandal“ zum Anlaß genommen werde, um „Hysterie zu erzeugen und die bisherige Aids-Politik zu revidieren“. Die Bundesrepublik habe im Vergleich mit allen anderen europäischen Ländern die niedrigste Infektionsrate – ganz ohne Meldepflicht und Zwangstests, erklärte die DAH. Die Zahlen belegten eine erfolgreiche Arbeit, die nicht gefährdet werden dürfe.

Zustimmung für den Seehofer- Vorschlag kommt vom traditionell konservativen Hartmannbund und vor allem aus dem Osten Deutschlands. Der Hartmannbund will sogar Angehörige von Risikogruppen „zu einem Bluttest verpflichten“ (zwangstesten) und zusätzlich eine namentliche Meldepflicht einführen, um zu verhindern, daß Infizierte zum Blutspenden gehen.

Minister Seehofer will sich in den nächsten Tagen mit Vertretern der Ärzteschaft treffen und dann in Sachen Meldepflicht entscheiden.

Unterdessen hat die FAZ Seehofer mit Bismarck verglichen. Wie der Reichskanzler beherrsche er die „hohe Kunst“, genau die Stimmung zu erzeugen, die man brauche. Einige hätten erst jetzt bemerkt, so die FAZ weiter, „wohin der Hase im hysteriegetriebenen Aids-Skandal läuft“.