Die Kamera vom Nachdenken überzeugen

■ Ein Gespräch mit dem „Mesmer“-Hauptdarsteller Alan Rickman über enge Korsetts, zusammengeklebte Fehler und große Damen mit kleinen Krankheiten

taz: Als was spielen Sie Mesmer: als überzeugten Arzt, als Scharlatan oder als Verführer?

Alan Rickman: Ich spiele eine Figur nicht „als“ etwas, ich spiele sie so, wie ich sie im Drehbuch angelegt sehe. Die Rolle ist sehr komplex, es ist eine große Herausforderung, die Vielschichtigkeit zu verkörpern, die sie in Dennis Potters Buch hat. Potter ist ein sehr außergewöhnlicher Autor: Entweder man kann sehr viel mit ihm anfangen oder aber überhaupt nichts. Sein Drehbuch ist keine gemütliche Kutschfahrt durch die Vergangenheit, sondern eine Achterbahnfahrt der Emotionen: voller komödiantischer und erotischer Elemente und auch voller Bezüge zu unserer Gegenwart.

Einer dieser Bezüge ist die erotische Beziehung zwischen dem Arzt und der Patientin. Ist das im Film eine Grenzüberschreitung, ein Regelbruch?

Das ist sehr ambivalent, denn ich denke, die Nähe und das Vertrauen zwischen den beiden ist sehr wichtig für den Heilungsprozeß. Mesmers Behandlungsmethode hatte natürlich etwas Anrüchiges in den Augen der damaligen Gesellschaft, denn er berührte seine Patienten an Körperteilen, die damals als sehr intim empfunden wurden. Nun, damals wurde fast jeder Körperteil von Kleidern verdeckt und war deshalb intim! (lacht) Oft lösten Patientinnen ihre engen Korsetts, bevor sie zu ihm kamen, damit er sie leichter berühren konnte.

Wie gehen Sie an Potters Drehbuch heran? Gibt es zum Beispiel eine Art Schlüsselsatz, der Ihnen die Figur erklärt?

Ja doch, gegen Ende macht Mesmer sich klar, was er geworden ist und wie er es geworden ist. Solche Dialogsätze sind wichtig, sie sind Wegmarken, mit deren Hilfe man beim Spielen einer Szene bereits das Entscheidende der nächsten Szene entdecken kann oder aber Aufschluß über eine frühere Szene bekommt. Das große Problem bei Filmemachen ist natürlich, daß nicht in der chronologischen Reihenfolge gedreht wird: Mir wird immer wieder klar, welche Fehler ich in früheren Szenen gemacht habe. Das Filmemachen besteht also eigentlich aus einer Reihe von Fehlern, die später zusammengeklebt werden.

Verändert sich Mesmer im Verlauf des Filmes? Gibt es einen Bruch zwischen Wien und Paris?

In Paris hat ihn sein Erfolg ernüchtert. Im Dialog heißt es einmal, nun behandle er „große Damen mit kleinen Krankheiten“. Obwohl der tatsächliche Mesmer, das sieht man in unserem Film nicht, in Paris nicht nur einen Salon für reiche Patienten unterhielt, sondern auch für die Armen. Aber er ist ein professioneller Darstellungskünstler geworden, der seinem Image gerecht werden muß, nicht anders als heutzutage die Wunderheiler im US-Fernsehen. Mesmer hält seine Séancen sogar mit Musikbegleitung ab.

Heute haben Sie nur dialoglose Szenen gedreht. Empfinden Sie das als schwieriger, oder können Sie da auch einer Lust am Gestischen, am Umgang mit Requisiten nachgehen?

Vielleicht. Aber die Requisiten sind notwendig, vergessen Sie nicht, daß eine der Figuren blind ist. Da geht es viel um das Ertasten von Gesichtern und Gegenständen. Solche Szenen sind im Film schwieriger als im Theater, wo man ja immer eine gewisse Kontrolle über das Publikum haben kann. Es ist schwierig, die Kamera davon zu überzeugen, daß man nachdenkt! Sie ist gnadenlos; wenn ich in einer Großaufnahme nachdenklich aussehen soll, muß die Kamera diesen Prozeß in meinen Augen auch wirklich entdecken können. Interview: Gerhard Midding