Soll man Ärzte besuchen müssen? Von Claudia Kohlhase

Ein Arztbesuch gehört zu den Dingen, die unser Wohlbefinden entscheidend beeinträchtigen. Dabei kommt man schon krank hin!

Aber in einer Arztpraxis interessiert das erst mal nicht weiter. Nein, man muß froh sein, wenn man nicht stört beim Empfang und den Krankenschein dalassen darf. Schließlich haben alle vier Arzthelferinnen alle acht Hände voll zu tun, die Patientenkarten auseinanderzuhalten.

Da sei jedem geraten, sich nur gleich artig ins Wartezimmer zu setzen. Glücklich diejenigen, deren Arzt Interesse an ihrem hohen Niveau und deshalb keinen Lesezirkel hat. Dafür aber zehn Jahre alte Geo- und Merian-Hefte, aus denen andere Patienten im Laufe der Zeit eben wegen des hohen Niveaus schon die interessantesten Artikel herausgerissen haben. Immerhin kann man noch verfolgen, welche herrlichen Gegenden der eigene Arzt bevorzugt, um sich von Jammerlappen wie deinesgleichen zu erholen.

Im Vergleich zum Zeitschriftensortiment ist das Platzangebot dann aber sehr großzügig aus dem Privathaushalt der Arztfamilie bestückt: Wer Glück hat, erwischt das reizende Kinderstühlchen.

Ansonsten soll man nicht glauben, daß man in diesem Leben noch drankommt. Denn in einem Wartezimmer wartet man nur auf die eigene Benachteiligung. Erst kurz bevor man gnädig erstirbt, erklingt auf einmal ein Ruf wie Donnerhall aus dem Lautsprecher: das ist DEIN Name! Vor Schreck fällt dir die räudige Merian-Nummer über Vordertirol vom Schoß und verpufft, während du zum Empfang wankst: Ist es denn wirklich wahr, willst du ausrufen, ich? Ich Unwürdige? Soll drankommen?

Aber schon sitzt du im vierten Behandlungsraum. Hier kannst du in der verbleibenden Restzeit von etwa einer halben Stunde die Fachliteratur deines enorm gebildeten Arztes studieren und vier bis fünf niedliche Stehrähmchen voll von reizenden Kindern bewundern, die deinen Arzt zum Vater haben und „du“ zu ihm sagen dürfen.

Du holst noch einmal deinen Zettel raus, auf den du deine Symptome geschrieben hast zum Auswendiglernen. Aber hui! geht mit einem vitalen Schwung die Türe wie im Western auf, und herein stiebt dein Arzt, das herrliche Wesen. Fast möchte sich ein Jauchzen aus deiner Kehle lösen, aber da hat dein Arzt schon sein Werkzeug zur Hand und kennt bereits den ganzen Mangel, wo du ihn grade erst aufzählst.

Und schon pult er hier, schrappt da ein wenig, klappt Augen, Ohren, Zungen weg, schreibt vehement ein Rezept und erhebt sich dann ohne Widerrede. Und flugs stehst du wieder da draußen, wo du im Prinzip gerade erst herkamst. Der Dämmer im Flur macht dich noch schattiger als so schon — witzigerweise hängt hier genau der Garderobenspiegel.

Und zack bist du wieder auf der Straße, als gehörtest du dahin. Einmal noch blickst du sehnsüchtig hoch zu dem Fenster, wo längst eine andere sitzt; und auf einmal brennt in dir siedendheiß die Frage: Was hab' ich eigentlich? Und wenn was, woher? Warum? Wozu? Wie lange? Muß mit Ableben gerechnet werden?

Ach, Fragen über Fragen und keine Antwort. Okay, denkst du mit letzter Kraft, diesmal werd' ich noch mal gesund. Aber nächstes Mal sterbe ich gleich im Wartezimmer. Das würd' ich denen gönnen.