Besockt im Skelettkostüm

Epilog auf ein ebenso kryptisches wie populäres Berliner Phänomen: Die Tödliche Doris, 1980 gegründet, 1987 verschieden, materialisiert ihre unsichtbare 5. Langspielplatte nachträglich als Compact Disc  ■ Von Harald Fricke

Man kann eine alte Geschichte gar nicht besser nacherzählen als in der Wiederholung. Die Tödliche Doris, kratzbürstiges Aushängeschild im besetzten Berlin der frühen achtziger Jahre, veröffentlicht sechs Jahre nach Auflösung der Gruppe eine Art Memorial-CD – und das Promoplakat fällt unter die Zensur.

In Karlsruhe sah sich der städtische Kulturreferent Dr. Heck genötigt, die Abbildung einer schmalen tätowierten Frauenhand aus Schulen und öffentlichen Gebäuden entfernen zu lassen, weil die eingeritzten Four-letter-words fuck, hate, kill seiner Meinung nach zu „politischer Anstößigkeit“ führten. Die Begriffe könnten auch rechtsradikal verstanden werden und zur Nachahmung verführen.

Solche Mißverständnisse kommen derzeit häufiger zur Sprache – einmal anarchisch benutzte Strategien verkehren sich außerhalb des Kontexts in ihr Gegenteil. Doch Doris ist nicht die Tante zum Böhsen Onkel, sondern, neben Gruppen wie DAF und Der Plan, eher Erst-Punk – mit Drang zur bildenden Kunst. Schließlich machten gerade die Einsitzenden aus dem Düsseldorfer Ratinger Hof oder eben aus Kreuzberg den Schnitt zwischen Zeichen für das Dazugehören zu einer wie auch immer gearteten Gegenöffentlichkeit und deren situationsgebundenem Ausdruck sichtbar.

Liberalismus gilt unter subversiven Kunstgängern noch immer nicht als Markenzeichen. Und wenn tatsächlich einmal Tattoos als Friedensangebot ans Establishment weichen und operativ entfernt werden müssen, bleiben zumindest die Narben zurück. Die Sache hat darum noch einen anderen Haken: Die Dorisse Käthe Kruse, Wolfgang Müller oder Nikolaus Utermöhlen sind gar nicht mit Tödliche-Doris-Kampfparolen tätowiert, und das Cover stammt von dem Schweizer Künstler Ueli Etter. Das Bild ist ein Symbol, das – wenn überhaupt – die Haltung der Band zur Musik widerspiegelt. Es hat ein wenig mit der Frage nach möglichen Konsequenzen in der Vereinigung von Kunst und Leben zu tun – und dem Körper, der daran angeschlossen ist. Das ist eigentlich keine Frage der Ideolgie.

So auch bei der Tödlichen Doris: Streng und dominant, hart, aber gutherzig traten die drei musikalischen Laienspieler 1980 aus dem Schatten der Neuen Wilden. Man mußte nicht wissen, wie eine Gitarre gespielt wird, solange der Verstärker rückkoppelt, und Gesang war keine Frage der Stimme, sondern des Textes. 1981 herrschten sie das Punkpublikum im Berliner Tempodrom mit Sätzen wie „Der Krieg der Basen ist ständig im Kopf“ an, 1983 lädt eine milder gestimmte Doris ihren Fankreis nach Helgoland ein; im Jahr darauf steht sie kurz besockt im Skelettkostüm auf Budapester Bühnen, hockt nackt in der Ecke und wird zur Belohnung als Kultur-Export nach New York ins Museum of Modern Art verschickt; und während die LP „Die Tödliche Doris“ wegen jugendgefährdenden Inhalts auf den Index gesetzt wird, erzielt „Chöre & Soli“ als Auflagenobjekt mit Miniphonplatten und Abspielgerät frisch aus dem mamabrüllenden Unterleib einer genormten Industriepuppe Sammlerpreise bis zu 2.000 Dollar – nicht auf Plattenbörsen unterm Ladentisch, sondern in der Galerie.

Indem die anfangs genial-dilettantischen Schallplatten, Videos und Geräusche also sehr rasch in Kunst überführt wurden, fördern sie jetzt einen Diskurs zutage, bei dem das zunächst öffentliche Bedürfnis nach Form- und Regellosigkeit in Zensur umgekippt ist. Die Ausnahme soll als einverleibter Fremdkörper in der Regel endgültig verschwinden.

Der Ort, an dem das von Staats wegen beklagte Interesse am „Ficken, Hassen, Töten“ aufeinandertrifft, ergibt sich für die „fünfte LP“ aus einem simplen Montageprinzip. Bereits 1984 war „Unser Debüt“ erschienen, zwei Jahre danach folgte „Sechs“, und jetzt wurden beide Platten von Wolfgang Müller zu einer CD zusammengemixt.

DJs machen so etwas täglich. Doch hinter dem 44minütigen Soundsandwich steckt eine Idee, nach der das additive Klangergebnis schon bei der ursprünglichen Produktion der LPs festgelegt worden war. Alle neun Stücke sind nicht nur jeweils identisch lang, beziehen Texte und Titel aufeinander oder haben verwandte Melodienfolgen – sie wurden in Wahrheit sogar zeitgleich in den Düsseldorfer Atatak-Studios aufgenommen. Jeder zufällige Gleichklang ergibt sich demnach aus der totalen Kontrolle, während die einzelnen Phänomene listenreich völlig unterschiedlich konnotiert wurden.

So war der Ausverkauf junger Avantgarde auf dem Popmarkt der frühen achtziger Jahre das musikalische Thema der „Debüt“-LP: Von der Neuen Deutschen Welle war nur eine anbiedernde Fröhlichkeit übriggeblieben, die Neubauten steuerten mit Hilfe des Goethe-Instituts in den sicheren Hafen von Peter Zadek. Entsprechend sollte die Tödliche Doris „ambitioniert“, „aufdringlich“ und zugleich „kommerziell“, nach attitüdenhafter Kunstunterhaltung klingen.

Das ist sicher gelungen: Noch auf dem Kuddelmuddel von „5“ dominieren diese stockenden Bekenntnistexte, zu denen das Blockgeflöte ebenso paßt wie die zuversichtlich vor sich hin pluckernde Roland-Beat-Box. „Sechs“ dagegen betonte anschließend die Rückkehr zu akademischer Strenge – statt expressiver Stimmungsmache war die Musik hier „esoterisch“ ausgefallen. Dem Andreas-Dorau-mäßigen „Südwestwind“ mit freundlichem Cocktailparty-Singsang von Gast-Doris Tabea Blumenschein folgte an gleicher Stelle „Windstille“, ein unterbrochen rhythmisierter Experimental-Track mit minimalen, schleppenden Elektronik-Arrangements.

Rezensionen schlossen sich bereitwillig den künstlerischen Vorstellungen an: Während Peter Bömmels zu „Unser Debüt“ über den Mangel an Pathos in der März- Spex 1986 zu Felde zog, mutmaßte Diedrich Diederichsen wegen der ausbleibenden Ordnung der Töne auf „Sechs“ wenige Monate später, daß dies der „schönste Traum der Moderne“ wäre, „der tragisch- unerfüllbare“. Allerdings klangen auch ihm die Stimmen von Kruse, Müller und Utermöhlen zu menschlich, um „nur große Kunst zu machen“.

Tatsächlich arbeitet Die Tödliche Doris sechs Jahre nach ihrem Ableben auf der „unsichtbaren Fünften“ noch offenherziger an der Transparenz sozial wie formal mitschwingender Produktionsmuster.

Die CD funktioniert nicht einmal retrospektiv als Referenz im Hinblick auf irgendeine ältere Vorgabe, sucht keine Zeit der anderen Auslegung, durch die sich ihre historische Bedeutung zumindest in der Objektivation sichern ließe. Vielmehr bricht die posthume Veröffentlichung des fehlenden Bindeglieds zwischen vierter und sechster Platte mit dem Gedanken an ein abgeschlossenes Werk: Es bleiben nur Schnittmengen und Überlagerungen anstelle des historisch einzuordnenden Produktionskörpers über. Die Vergangenheit wird praktisch neu definiert, was sonst nur im Zuge von Revolutionen passiert.

Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, daß viele jüngere und junge Zuschauer zu den Record-Release-Parties in Frankfurt, Köln, Karlsruhe oder Leipzig gekommen sind – nicht wegen der Geschichte, sondern wegen der Aktualität. Vielleicht hatte auch der Kulturreferent so etwas befürchtet/geahnt. Denn gerade die nachträgliche Vermischung unterscheidet sich von jener Zwangssynthese, mit der die Band zur Zeit der Genialen Dilettanten zum Bestandteil des Kulturbetriebs ernannt wurde. Die Trennung in high und low wird nicht von einer Meta- Standortbestimmung aufgehoben, sondern in vielfache Parallelitäten aufgelöst.

Mit der gleichen Absicht wurde ein gemäßigteres Kombinationsprinzip ausgeschlossen, das jeder LP einen eigenen Kanal hätte einräumen können. Faktisch läßt sich keine der beiden Platten mehr einzeln auf CD abhören. Originalzusammenhänge verschwinden, nur das Supplement bleibt übrig. Eins plus eins ergibt weder eins noch zwei, sondern – etwas Ähnliches.

„Sechs“ und „Unser Debüt“ ergänzen einander in der Art von verschiedenfarbig strukturierten Hintergründen, deren Klangraum sehr stark mit dem jeweiligen Schwerpunkt wechselt: „Stereo“ scheint beispielsweise die metallenen Geräusche direkt aus dem Lautsprecher zu schaben. Dasselbe Verfahren findet sich übrigens auch auf Müllers „BAT“-LP, die den Spürsinn von Fledermäusen erforscht. Hochfrequenzwellen, mit denen die Blindflieger ihre Umgebung ausloten, wurden in Knallgeräusche umgewandelt und als Pendant zum Sender- und Empfängermodell von Musik auf Platte gepreßt. Ultra zwar, aber kein Pop.

Auf dem Schlingerpfad der achtziger Jahre führt die Orientierung nie mehr ganz zum Anfang zurück: Durch die Brille des New Wave betrachtet verlief die Bandgeschichte im Übergang von Punk über lockernde dadaistische Aktionen (Handstand beim Konzert, ins Kissen singen etc.) bis zu Randbereichen der „E-Musik“ zwar ziemlich heilsgeschichtlich. Wolfgang Müller rekonstruiert die kontinuierlich erscheinende Emanzipationslinie jedoch als eine Bewegung aus unabgleichbaren Momentaufnahmen. Oder, wie es in einer Zeile aus „Ortsgespräch 1986“ über Wege und Spuren formuliert ist: „Wir kamen an das gleiche Tor, durch das wir zuerst gegangen waren“ (während parallel auf „Unser Debüt“ im Präsens „Wir kommen an das gleiche Tor“ gesungen wurde).

Dazu der Kommentar von Müller anläßlich des Erscheinens auf CD: „Es ist eines dieser chinesischen oder japanischen Tore, die in der Landschaft stehen. Man tritt über ihre Schwelle und ist immer draußen.“ Aus der Sicht des Augenblicks ist in Kunst und Leben alles Bruch.

Die Tödliche Doris: „5“ (im guten Fachhandel erhältlich)