„Da wollen wir den Bürger nicht belasten“

Seifhennersdorf an der tschechischen Grenze: Der BGS geht seiner Arbeit nach und hält „Illegale“ von Land und Leuten fern, im Ort kämpft eine Initiative um Verständnis für die Flüchtlinge  ■ Von Detlef Krell

Horst Nickel stammt aus Aachen, wohnt in Belgien, fünfhundert Meter hinter der Grenze im Westen, und dient in Seifhennersdorf, an der Grenze im Osten. Vor drei Jahren machte sich der Beamte des Bundesgrenzschutzes erstmals auf den Weg quer durch Deutschland. Seine neue Dienststelle wurde ein Grenzübergang an der Straße, die vom sächsischen Seifhennersdorf ins böhmische Varnsdorf führt.

Es sind vor allem EinkaufstouristInnen und Transitreisende, hin und wieder auch Wanderer, die dort ihren Paß zeigen. Eine knappe halbe Stunde läuft man von einem Marktplatz zum anderen. Wenige Schritte neben dem kleinen Kontrollpunkt verläuft sich die EG- Außengrenze in Wiese und Wald.

Dort gehen seine Kollegen aus der benachbarten Dienststelle in Ebersbach Streife, auf der Suche nach „Illegalen“. Heute, am frühen Morgen, seien „viele Tunesier“ aufgegriffen worden, „bestimmt an die dreißig Stück, dreißig Leute“, teilt Horst Nickel mit. Direkt an seinem Grenzkontrollpunkt würden im Monat „höchstens ein, zwei Asylbegehrende“ vorsprechen. „Die werden dann anders behandelt als die Illegalen, weil sie nicht als Straftäter auftreten.“ Sie werden in ihr sogenanntes sicheres Herkunftsland „zurückgeschoben“. Illegale dagegen, „nach dem Aufgriff irgendwo im Gelände oder in den Orten“ werden zur BGS- Dienststelle „verbracht“, dann wird „der Fall bearbeitet“.

Der Seifhennersdorfer Dienststellenleiter könne zwar feststellen, daß die Zahl der an der Grenze aufgegriffenen Illegalen „seit der neuen Asylgesetzgebung“ rückläufig sei, doch er hütet sich, beide Fakten in einen unmittelbaren Zusammenhang zu stellen: „Manche meinen auch, der Rückgang liege daran, daß es die beiden Schleuser in Varnsdorf nicht mehr gibt. Der eine hat sich totgefahren, mit einem gestohlenen Mercedes, der andere ist von den Tschechen ausgewiesen worden.“

Mal häufiger, mal seltener kommen Illegale, die weder einen Paß noch irgendeinen anderen Ausweis besitzen, keinerlei Hinweis auf ihre Identität geben, kein Wörtchen reden. „Mit denen haben wir die meiste Arbeit“, seufzt der Beamte. Oft seien es Chinesen, die in Gruppen zur Grenze kommen und jede Auskunft verweigern. „Dann werden Fingerabdrücke genommen und die Personen der Staatsanwaltschaft übergeben“, diese beantragt eine „vorläufige Zurückschiebehaft“. Während der sechswöchigen Haft seien die Leute dann „in bisher 100 Prozent der Fälle bereit, auszusagen“.

In der Sächsischen Zeitung war kürzlich ein Foto zu sehen, das während der „Bearbeitung“ einer illegalen Einreise aufgenommen wurde: Ein Asylbewerber, nackt, bückt sich tief, ein BGS-Beamter äugt ihm in den After. Horst Nickel findet diese Veröffentlichung skandalös und entehrend. Entehrend für den Flüchtling, wie er gleich noch klarstellt. „Für uns gibt es keine Menschen zweiter Klasse, auch nicht, wenn sie illegal zu uns kommen“, erklärt er, und wenn die Beamten „zu ihrer Sicherheit“ Kontrollen vornähmen, dann wäre das kein Bild für die Öffentlichkeit. „Der Fotograf wäre bei mir das nächste Mal rausgeflogen.“

Horst Nickel hält seiner Truppe zugute, daß sie mit „Asylanten“ korrekt umgehe und sich auch ungewohnten Aufgaben stelle: „Der BGS ist ja mittlerweile für alles da, ob es um schmutzige Windeln geht oder um Babynahrung, ob Frauen, Kinder ins Krankenhaus zu bringen sind; am besten wäre, wir könnten auch noch die Brust geben.“ Es gebe Kollegen, die das Diensterlebnis menschlichen Elends „härter wegstecken“, für ihn sei das eine alltägliche „Tortur“.

Den Seifhennersdorfer BürgerInnen möchte er das gern ersparen. „Ich bin froh, daß der Grenzübergang ein Stück außerhalb des Ortes liegt und die Leute nicht mitbekommen, was hier manchmal läuft. Vor allem mit den Kleinkindern, das muß nicht jeder wissen, damit wollen wir den Bürger nicht noch belasten. Der hat schon so wahnsinnig viel mit seinen Problemen zu tun.“

Das meinen die Seifhennersdorfer auch. Zu einem abendlichen Forum: „Leben mit Flüchtlingen“, finden sich, wie jemand ironisch bemerkt, „wieder nur die Funktionäre“ ein. Organisator Thomas Pilz vom MUK, dem „Multikulturellen Zentrum“ in Zittau, wagt dennoch eine positive Interpretation: „Das Asylbewerberheim ist schon ein Stück weit Normalität in der Stadt.“ Als vor einem Jahr bekanntgeworden war, daß in einem ehemaligen Lehrlingswohnheim des Städtchens ein sogenanntes Übergangslager eingerichtet werden soll, wähnte sich mancher Nachbar gleich verraten und verkauft.

„Normalität“ heißt, daß die Proteste verebbt sind und die „Fremden“ sich schon mal vor die Tür wagen. „Man sieht jetzt doch öfter welche durch den Ort gehen“, berichtet eine Frau, „es ist nicht mehr so, daß man gar keinen zu Gesicht kriegt.“ Freilich wahrt man Distanz, denn „wenn sich jemand mal mit den Asylanten unterhält, dann wird er von den Leuten argwöhnisch beäugt“. Eine Seifhennersdorferin, die in der Nachbarschaft durchblicken ließ, daß sie zum heutigen Forum gehen werde, mußte sich gar rechtfertigen: „Was, da gehst du hin?“ sei sie gefragt worden.

An der langen Tafel des Seniorenklubs nehmen der Bürgermeister, der Schulleiter, der Leiter des Kindererholungszentrums Platz, auch Bundesgrenzschützer Horst Nickel kommt, eine Mitarbeiterin des Landratsamtes, der Pfarrer und zwei Schäfchen aus der Jungen Gemeinde, eine Abgeordnete der örtlichen Bürgerbewegung. Und die Bewohner des Flüchtlingsheimes, Asylsuchende aus Ghana, Zaire, Iran, Irak, Palästina, Libanon, Algerien. 140 Plätze hat das Seifhennersdorfer Heim, davon sind jetzt 80 belegt.

„Vielleicht“, wendet sich einer der Funktionäre aus der Runde etwas unbeholfen an die Ausländer, „vielleicht können Sie uns ja mal erzählen, warum Sie nach Deutschland gekommen sind?“ Also erzählen sie, der Iraker über seine Desertion, der Palästinenser über seine Familie und die Situation seines Volkes. „Ich bin mit einem Fluchthelfer über die Grenze gekommen“, gibt ein anderer unumwunden zu. Wie denn sonst. Es ist ein ruhiges Gespräch, das nicht nur wegen der Übersetzungsschwierigkeiten öfters stockt. „Warum reden die Menschen hier oft so oberflächlich über Asyl?“ fragt der Iraker. „Wir sollen immer wie Engel sein“, bringt der Palästinenser die Erwartungen seiner deutschen Nachbarn auf den Punkt. Wenn ein Deutscher auf der Parkbank sein Bier trinke, sei das normal, mache das aber ein Ausländer, würden gleich alle Asylbewerber zu Säufern erklärt. Er sei Arzt, berichtet er, und er würde sich viel lieber um die Gesundheit der Heimbewohner, vor allem der Kinder, kümmern, als nur die Tage im Lager zu verwarten.

Die Flüchtlinge waren nach Seifhennersdorf gebracht worden, als das Zittauer Lager buchstäblich über Nacht in einer Erstaufnahmelager verwandelt worden war. „Da gab es Tränen“, erinnert sich Annette Scheibe, Vorsitzende des MUK. Endlich hatte es der engagierte Verein geschafft, die AusländerInnen aus der Lagerenge heraus ein Stück in den Zittauer Alltag zu holen; vor Schulklassen haben sie gesprochen, Diskotheken und Feste veranstaltet, Fußball gespielt gegen Zittauer Mannschaften – und da macht eine Verwaltungsentscheidung alles kaputt.

Alles nicht, dafür hat das MUK viel zuviel Phantasie. So oft es geht, werden die Asylbewerber mit einem Kleinbus oder Privatautos zu allen möglichen Treffs und Feiern abgeholt. Auch darüber redet man an diesem Abend. „Was können wir tun“, möchte der Schulleiter wissen, „damit die Asylbewerber etwas Sinnvolles leisten und nicht dazu verdammt sind, immer nur die Zeit zu verwarten?“ Thomas Pilz erzählt, daß unter MUK-Regie in Zittau ein Jugendhaus gebaut wird, von SchülerInnen, jungen Arbeitslosen, die sich als autonome Linke bezeichnen und in dem Haus einmal wohnen und arbeiten wollen.

Auf der Baustelle sind fast täglich auch einige Asylbewerber aus dem Seifhennersdorfer Heim zugange. Für ein Mittagessen packen sie mit an, „das hilft allen, weil es ganz selbstverständliche, soziale Integration bringt“. Dabei sei es nicht vordergründig wichtig, daß das Haus fertig wird, sondern „daß Austausch funktioniert: sich begegnen und annehmen, miteinander arbeiten, essen, trinken, feiern“.

Das findet die Junge Gemeinde gut, so etwas könnte sie sich auch vorstellen. Der Pfarrer hat auch schon eine Idee für die Baustelle an der Kirche. Und der Schulleiter will den Schülerrat fragen, was er denn von einem Fußballturnier halte. In Zittau waren die jungen Kicker schon mal soweit, von gemischten Mannschaften zu reden... Ja, es sei bedauerlich, daß so wenige „Normalbürger“ an dem Forum teilgenommen haben, findet Claudia Hüttig, die Ausländer-Beraterin des MUK. Andererseits sei es wichtig gewesen, daß eben diese Runde sich aussprechen konnte. Das war ein kleiner Dammbruch. Auf beiden Seiten, denn nie zuvor hätten sich so viele Asylbewerber in dem Ort an die Öffentlichkeit gewagt.

„Wir wissen kaum, was an der Grenze jeden Tag passiert“, schildert sie die Situation des Vereins. Erst wenn sie in den sogenannten Durchgangslagern angekommen sind, kann sich der Verein oder eine andere Flüchtlingsinitiative um sie kümmern.

Anfang Juli sei vom BGS eine serbische Mutter mit zwei Kindern aufgegriffen worden. Ein Kind hatte Scharlach. Nach Rücksprache mit der Zittauer Ausländerbehörde konnten die Flüchtlinge zunächst einreisen. Das MUK kümmerte sich darum, daß die Serbin eine Bleibe fand, im Frauenschutzhaus. Das Kind kam ins Krankenhaus. Doch noch bevor die Krankheit richtig ausgeheilt war, mußte die Mutter ihr Kind aus dem Krankenhaus holen; der BGS brachte die drei über die Grenze nach Varnsdorf und überließ sie dort ihrem Schicksal. „Das ist kein Einzelfall“, weiß Claudia Hüttig. „Wir müssen Flüchtlinge und Abgeschobene an der Grenze beraten, bevor sie an Schlepper oder an den BGS kommen. Dazu brauchen wir grenzübergreifende Beratungsstellen.“

Auf einer Konferenz vom 5. bis zum 7. November in Waltersdorf bei Zittau will das MUK mit polnischen, tschechischen und deutschen Flüchtlingsinitiativen über gemeinsame Projekte beraten. Auf der Tagesordnung stehe die Vernetzung von Flüchtlingsinitiativen im Dreiländereck und ein gemeinsames Konzept für den Umgang mit Illegalen. Das Echo auf die Einladung sei größer, als es die Organisatoren zu hoffen gewagt hatten. Das tschechische und polnische Rote Kreuz wollen kommen, BetreuerInnen eines Bosnier-Lagers in Böhmen, das Helsinki-Komitee in Prag; amnesty international und Brandenburgs Ausländerbeauftragte Almuth Berger haben Interesse signalisiert, Initiativen in Jelenia Gora, Warschau, Usti nad Labem, Varnsdorf ebenfalls. Die junge Sozialarbeiterin drängt: „Wir müssen uns einmischen in das, was an der Grenze passiert.“