Seine Väter spielen weiter

■ AKW Tschernobyl darf weiterlaufen / Das Wrack erwirtschaftet nämlich Devisen

Berlin (taz) – Die Atommeiler von Tschernobyl dürfen weiter Gesundheit und Sicherheit der Menschen in ganz Europa gefährden. Das Parlament der Ukraine hob gestern seinen Stillegungsbeschluß für das Katastrophen-AKW am Dnjepr auf. Wegen akuten Energiemangels sollten die drei laufenden RBMK-Reaktoren weiterbetrieben werden, „solange der technische Zustand es erlaubt“. Im vergangenen Oktober hatten die ParlamentarierInnen das Risiko der Atommeiler in Tschernobyl noch für so groß gehalten, daß sie Ende 1993 endgültig abgeschaltet werden sollten.

„Energiemangel“ ist nicht ganz präzise: Auch ohne Tschernobyl gehen die Lichter in der Ukraine nicht aus, es mangelt der Ukraine nur an Devisen zum Erwerb von Öl und Gas in Rußland. In einem vom kommissarischen Regierungschef Swjagilski unterzeichneten Schriftstück für die Abgeordneten hieß es: „Die Nutzung der Kernkraft muß wegen der begrenzten Energielieferungen aus Rußland und wegen der gestiegenen Energiepreise fortgesetzt werden.“ Staatschef Leonid Krawtschuk sagte vor den Abgeordneten: „Die Ukraine kann nicht auf die Weiterentwicklung der Atomkraft verzichten.“

Mit anderen Worten: Tschernobyl erwirtschaftet Devisen für die Öl- und Gasimporte der Ukraine und muß deshalb weiterlaufen. Der Pressesprecher des Atomkraftwerks, Sergej Akulinin, sagte der taz vor einigen Monaten: „90 Prozent der Energie, die wir hier erzeugen, wird exportiert.“ 300 Millionen Dollar würden so erwirtschaftet.

Zu den besten Kunden des Energiekombinats, das Tschernobyl betreibt, gehört die Österreichische Elektrizitätswirtschaft AG. Selbst die Internationale Atomenergiebehörde in Wien räumt ein, daß die Ukraine mit dem Strom aus Tschernobyl vor allem Devisen verdient. „Die Ukraine produziert sehr viel mehr Strom, als sie braucht“, so ihr Sprecher Hans-Friedrich Meyer im Frühjahr.

Daß in der Ukraine auch ohne die Schrottmeiler von Tschernobyl nicht die Lichter ausgehen, zeigen die Erfahrungen des vergangenen Sommers. Von Mai bis Mitte Oktober 1992 war das Atomkraftwerk Tschernobyl wegen mehrerer Unfälle komplett stillgelegt, ohne daß deswegen die Stromversorgung in der Ukraine zusammengebrochen wäre. Die 15 Atommeiler der Ukraine erzeugen zusammen rund ein Drittel des ukrainischen Stroms. Künftig soll es noch mehr sein. Die Abgeordneten des Parlaments in Kiew haben gestern mit 221 zu 38 Stimmen gleich noch den drei Jahre alten Baustopp für sechs neue Reaktorblöcke in den Atomkraftwerken Rowno, Chmelnizki, Saporoschje und Südukraine aufgehoben.

Die Sicherheit des Atomkraftwerks Tschernobyl, dessen Block IV 1986 explodiert war und ganz Europa mit strahlenden Wolken überzogen hatte, ist nach wie vor katastrophal. Erst im Januar hatte es einen leichten Brand im Block 1 des Kraftwerks gegeben. Sieben Jahre nach der Katastrophe, die inzwischen Tausende Menschen das Leben gekostet hat, sollen jetzt sogenannte langfristige Maßnahmen verwirklicht werden, um die Sicherheit der Anlage zu erhöhen.

Umweltschützer der Ukraine waren gestern entsetzt. Sie widersprachen auch der Behauptung, Tschernobyl könne je ein im Sinne der Atomindustrie sicheres Atomkraftwerk werden: „Der Tschernobyl-Reaktortyp RBMK kann nicht modernisiert werden, er entspricht prinzipiell nicht den internationalen Sicherheitsnormen“, sagte Wladimir Schewtschenko, ein Experte der Umweltbewegung „Seljony Swit“ (Grüne Welt). Auch westliche Reaktorexperten und selbst die Bundesregierung in Bonn hatten immer wieder betont, daß die RBMK-Reaktoren nicht auf ein akzeptables Sicherheitsniveau nachzurüsten seien. Wladimir Jaworiwski, Vorsitzender des Tschernobyl-Ausschusses im Parlament, nannte den Beschluß unbesonnen. „Statt in die Entwicklung von Kernenergie auf diesem niedrigen Niveau zu investieren, könnte ein Teil des Geldes für energiesparende Technologie in der Ukraine verwandt werden.“ ten