Das "Sammelbecken" läuft über

■ Vollzeitlehrgänge überfüllt und pädagogisch "völlig unzureichen" betreut / 100 LehrerInnen diskutieren Mängel an der schulischen Ersatzmaßnahme für verpaßte Lehrstellen / "Schwachsinniger" Schülerleitbogen

Das Kürzel „VZ 11“ macht finstere Karriere. Eigentlich steht es für Vollzeitlehrgang, 11. Klasse. Aber seit letztem Jahr ist es in Berlin weiteres Symbol einer verfehlten Bildungspolitik. Jugendliche Schulabgänger, die keine Lehrstelle finden, sollen in Vollzeitlehrgängen ihren Hauptschulabschluß aufwerten und sich gleichzeitig auf den Beruf ihres Wunsches vorbereiten. Das ist die Idee der Ersatzmaßnahme für den entgangenen Ausbildungsplatz. Die Realität sieht anders aus. Tausende Schulabgänger melden sich bei Vollzeitlehrgängen an. Plätze gibt es indes nur rund 1.000. Viele werden abgewiesen. Wo sie landen, kann niemand genau sagen. Häufig genug auf der Straße. Bei einer Konferenz der GEW im Oberstufenzentrum Handel in Kreuzberg kamen nun weitere schwerwiegende pädagogische Probleme ans Licht.

Die Vollzeitlehrgänge sind zu einem Sammelbecken aller möglicher SchülerInnen geworden. Neben der eigentlichen Zielgruppe – AbsolventInnen mit Hauptschulabschluß, aber ohne Lehrstelle – kommen zwei weitere hinzu, die „nichts in VZ 11-Lehrgängen verloren haben“. Das sind einerseits lernschwache SchülerInnen, die wahrscheinlich nie einen allgemeinbildenden Abschluß erringen werden. Andererseits versuchen Zwei Drittel Realschüler

immer mehr Realschüler und sogar Gymnasiasten in VZ 11-Klassen die Schulbank zu drücken – mangels Alternative an Ausbildungsplätzen. In Kreuzberg stammten von 1.100 Angemeldeten 750 aus Real- oder Oberschulen. Doch die Realschüler „können in VZ 11 nichts mehr lernen“, sagte eine Lehrerin: „Für die sind das reine Warteschleifen.“

VZ 11 ist zum Sammelbecken geworden, weil die Stadt zu wenig Ausbildungschancen bietet. Das ist die Folge eines doppelten „industriellen Strukturbruchs“: er kostete 60 Prozent der industriellen Arbeitsplätze im Osten der Stadt. Und auch in Westberlin ist der dreijährige „Vereinigungsboom“ in eine Rezession umgeschlagen. Der Lehrstellenmarkt ist mit seinen rund 51.000 Ausbildungsverhältnissen (1992) besonders stark von den Westpendlern betroffen: jungen Leuten. Vier von zehn neuen Ausbildungsverhältnissen wurden durch Bewerber aus dem Osten besetzt, heißt es in einem Arbeitsmarktbericht des Wissenschaftszentrums Berlin. Lehrstellen sind so auch im Westteil der Stadt knapp geworden. Von den derzeit noch rund 1.100 nicht in Lehrstellen vermittelten Jugendlichen kommen über 900 aus den westlichen Stadtbezirken.

Mehr Praxisorientierung

Inzwischen schufen Bund und Länder in einer Gemeinschaftsinitiative Ost 810 überbetriebliche Ausbildungsverhältnisse in der Stadt. Die von der EG mitfinanzierten Stellen werden seit 1. Oktober besetzt. Der Run auf die Vollzeitlehrgänge setzte freilich bereits zum Ende des letzten Schuljahres ein. Seitdem leidet die schulische Ersatzmaßnahme zum verpaßten Ausbildungsplatz unter ihrer heterogenen Schülerschaft. Unterricht im Sinne von Wissensvermittlung wäre dort vollkommen unmöglich, schilderte Günter Labitzke, wenn in seinem Oberstufenzentrum (OSZ) nicht „ein Trick“ angewandt würde: er teilt die Klassen und teilt ihnen eine Sozialpädagogin zu.

Ein völlig anderes didaktisches Konzept forderte Detlev Schubert vom Kreuzberger OSZ für Konstruktion. Die Klassen müßten auf die Hälfte verkleinert werden. Bislang sind es 25 SchülerInnen pro Schulzimmer. Außerdem müsse regelmäßig ein Sozialpädagoge als Betreuer hinzugezogen werden. Die wichtigste Neuerung aber wäre ein mehr auf Zusammenhänge zielender, praxisorientierter Unterricht, forderte Schubert. In seinem OSZ würden Schüler, die bisher lustlos an einzelnen Werkstücken das Feilen erlernt hätten, jetzt im Teamwork ein Ruderboot aus Stahl herstellen. Das wäre „ein ganz anderes Erfolgserlebnis“ für Schüler, „die zu Hause ständig hören, sie hätten zwei linke Hände“.

Als entscheidendes Manko der Lehrgänge sieht Thomas Baer die „völlig unzureichende Ausbildung“ der Lehrer an. Wider Erwarten bekam Baer (vom Verein Arbeit und Bildung) dafür keine Kritik der LehrerInnen zu hören, sondern Beifall. Eine Lehrerin klagte ein, daß „die Kollegen eine Chance erhalten müssen, sich für die komplizierte Schülerschaft von VZ 11 fortzubilden“.

Aus Versehen in „VZ 11“

Von solchen Neuerungen sind die Vollzeitlehrgänge erst mal weit entfernt. Sie leiden an Kinderkrankheiten. Dazu gehört das Anmeldeverfahren, das mit einem sogenannten „Schülerleitbogen“ bewerkstelligt wird. Eine Lehrerin bezeichnete ihn „als Schwachsinn“. Sie forderte den an der GEW-Konferenz teilnehmenden Schulrat Dieter Wittke auf, den Schülerbogen umzuschreiben. Er sei so kompliziert, beschwerte sich eine andere Lehrkraft, daß ihn nicht mal die Lehrer verstehen. Wittke sagte zu, daß der zehn Jahre alte Schülerleitbogen „abgeschafft wird“. Wie er künftig aussehen soll, wußte der Beamte der Schulverwaltung noch nicht.

Von den anwesenden rund 100 TeilnehmerInnen der Konferenz wurde Schulrat Wittke energisch zu Eile gemahnt. „Nicht, daß im nächsten Mai wieder viele SchülerInnen glauben, sie hätten das Ihre getan, wenn sie sich auf dem Bogen für einen Lehrgang angemeldet haben“, sagte eine Lehrerin. Viele der Schulabgänger geraten nämlich „aus Versehen“ in den Vollzeitlehrgang. Verantwortlich dafür dürfte auch die miserable Beratung der SchulabsolventInnen sein. Niemand sagt den jungen Leuten bislang, daß VZ 11 nur eine schulische Ersatzmaßnahme und kein regulärer Ausbildungsplatz ist. Im Kreuzberger Oberstufenzentrum Handel wurde daher eine bessere Zusammenarbeit zwischen „abgebenden“ Schulen, Arbeitsamt und den aufnehmenden Berufsschulen gefordert.

Daß sich etwas ändern muß, bezweifelte niemand. Vor allem für die lernschwachen SchülerInnen „müssen wir etwas ganz Neues auf die Beine stellen“, forderte eine Lehrerin. Sonst würden die Schüler auf der Straße landen: „Wir können uns das als Gesellschaft nicht leisten.“ Christian Füller