■ Interview mit dem Ex-Botschafter Italiens, Ferraris
: „Ossis sind zarte Pflänzchen“

Professor Luigi Vittorio Graf Ferraris fühlt sich nach eigener Aussage in Deutschland zu Hause. Der 1928 in Rom geborene ehemalige Diplomat war von 1980 bis 1987 Italiens Botschafter in Bonn. Wenn er über seine Liebe zu Deutschland spricht, dann legt er Wert darauf, daß das „ewige“ Deutschland gemeint sei. „Das Deutschland Goethes, das Deutschland der Aufklärung, das Deutschland der Menschlichkeit, der Denker.“ Obwohl er nur einen italienischen Paß besitzt, sagt er über die fremdenfeindlichen Umtriebe in Deutschland: „Sie verletzten mich als Deutschen und haben mit dem wirklichen Deutschland kein Deut gemein.“ Seine Diplomatenkarriere hat er 1987 beendet. Seitdem arbeitet er als freier Wissenschaftler, Publizist und als Richter beim italienischen Staatsrat (Oberstes Verwaltungsgericht) in Rom. Sein 1988 erschienenes, ein wenig ironisch gemeintes Buch über die Deutschen „Wenn schon, denn schon... aber ohne Hysterie“ ist vielen noch unvergessen. Den kritisch-sympathischen Witz und die hintergründige Ironie, die darin zum Ausdruck kamen, hat er sich bis heute erhalten.

taz: Erfurt, Jena, Dresden, Potsdam. Das sind die ostdeutschen Metropolen, die Sie als Universitätsprofessor kennen und schätzen gelernt haben wie Rom und Bonn. Was hat Sie nach den neuen Bundesländern verschlagen?

Luigi Vittorio Ferraris: Sehen Sie, ich habe Ostdeutschland eigentlich erst nach der Wiedervereinigung entdeckt. Ich wollte das andere Deutschland niemals besuchen, auch in meiner Zeit als Botschafter in Bonn nicht, weil ich mich den DDR-Behörden nicht anbiedern mochte, wie es auch viele „erbitterte“ Gegner der DDR getan haben. Für mich war die Spaltung Deutschlands ein großer Fehler und eine Gefahr für den Frieden und die Stabilität in Italien, in ganz Europa. Dies also vorausgesetzt.

Unmittelbar nach der Verabschiedung des Einheitsvertrages besuchte ich fast zufällig Weimar und Jena. Und ich habe mich, wie soll ich sagen, sofort in Ostdeutschland verliebt. Nicht so eine unvernünftige Liebe: ein wahres, tief empfundenes Gefühl von Zuneigung – in dem Sinne, daß ich gespürt habe, die Zukunft des wiedervereinten Deutschlands kann, sofern überhaupt, nur in den unverdorbenen Bürgerinnen und Bürgern der neuen Bundesländer liegen. Die Medienkampagne gegen die Ostdeutschen ist völlig irrational und unbegründet. Ich selbst bin ein Italo-Ossi aus Leidenschaft geworden.

Sind die 40 Jahre DDR an den Ostdeutschen spurlos vorübergegangen, oder was meinen Sie mit „unverdorben“?

Spurlos nicht. Ich glaube aber, daß der im Westen weit verbreitete Vorwurf gegenüber den Ostdeutschen, sie hätten sich dem diktatorischen System bedingungslos angepaßt und gebeugt, eine reine Verdrehung der historischen Tatsachen bedeutet. Was hätten sie denn tun können, wenn wir im Westen der DDR Legitimität und Prestige verschafft haben? Unsere großen Politiker waren alle begeistert, jedes Jahr die Leipziger Messe besuchen zu dürfen und Honecker die Hand zu schütteln. Ohne den Bürgeraufstand der Ostdeutschen hätte es Jahrzehnte so weitergehen können. Wer hat sich, so gesehen, mehr schuldig gemacht? Mit „unverdorben“ meine ich, daß sich die Ostdeutschen eine Echtheit, eine Aufrichtigkeit, eine Frische und einen Mut bewahrt haben, die Sie hier mit der Lupe suchen müssen. Das nötigt Respekt und Bewunderung ab. Wo finden Sie in dem westlichen Deutschland noch phantasievolle Charaktere? Die Not hat die Ostdeutschen erfinderisch gemacht. Und diese Eigenschaften sind Dinge, die – man nehme es mir nicht übel – die bequemen Westdeutschen teilweise vergessen haben. Ein Ossi ist ein sensibles, zartes Pflänzchen, von der Sorte, die man heute selten findet. Statt es zu pflegen, als Schmuck zu betrachten, wird es behandelt wie Unkraut.

Sie sagen, Deutschland sei ihr zweites Vaterland. Finden Sie es nicht merkwürdig, daß ausgerechnet Sie, der Sie ja nur einen italienischen Paß besitzen, die „Ossis“ verteidigen müssen, während sonst alle Welt die Nase über sie rümpft?

In der Tat ist es ein wenig sonderbar, aber ich bin sozusagen eine neutrale Instanz. Mir kann man keine politische Strategie unterstellen. Manchmal fühle ich mich in Westdeutschland unglücklich. Wenn ich auf die ostdeutschen Probleme zu sprechen komme, stoße ich im Westen immer wieder auf eine unbegreifliche Abwehrhaltung. Ich werde gefragt, was wollen die eigentlich noch? Wieviel haben wir ihnen alles gegeben? Ich antworte, stimmt. Die sagen, wir haben für die drüben sehr viel bezahlt. Stimmt auch. Wir haben alles gut gemacht. Stimmt, stimmt wirklich, sage ich. Aber ihr wart nie mit eurem Herzen dabei. Wenn gesagt wird, die Ostdeutschen seien faul, dann stimmt das einfach nicht. Der Mangel in der verblichenen DDR hat die Leute dort noch mehr gebildet, noch mehr gestaltet als anderswo in Deutschland. Diese Eigentümlichkeit, diese Kraft der Ostdeutschen ist eine Bereicherung für die ganze Bundesrepublik. Und durch Deutschland ist sie eine Bereicherung für uns alle in Europa. Unsere Geschichte ist auch die Geschichte der DDR. Ob wir wollen oder nicht. Ein anderes Beispiel: Die Nazi-Vergangenheit ist nicht nur eine grauenvolle deutsche Vergangenheit, sie ist unser aller Vergangenheit. Wir können nicht sagen – das klingt jetzt etwas gewagt, aber es ist so –, Bach gehört uns allen, Hitler nicht.

Dann muß der richtige Präsident der Deutschen ein Ossi sein?

Eben nicht. Ich möchte keine besonderen Bewertungen über die verschiedenen Namen auf der Kandidatenliste abgeben. Nur wenn man sagt, es muß ein Ostdeutscher sein, weil sich die Brüder und Schwestern dann nicht mehr beschweren können, daß sie nicht ernstgenommen würden, dann ist das eine Art von positiver Diskriminierung. Vorurteile weiter sozusagen hochoffiziell zementiert: Sie sind anders, die Armen, und deshalb müssen wir ihnen wenigstens symbolisch entgegenkommen. Es ist nicht wahr, daß die Ostdeutschen damit glücklich wären. Auch sie wollen den besten Mann oder die beste Frau an der Spitze haben, nicht einen oder eine, die/der sich lediglich mit dem Etikett „ostdeutsch“ qualifiziert. Toleranzfähigkeit und eine versöhnende Ausstrahlung, das sind echte Kriterien für eine gute Wahl. Klar ist auch, daß es nur jemand sein kann, der die beschriebene geistige, politische und kulturelle Spaltung der Deutschen überwinden hilft und nicht vertieft.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Ihren ostdeutschen Studenten gemacht? Sind Sie tatsächlich so unbeholfen und naiv und argumentieren in ihrer alten jahrzehntelang eingehämmerten leninistisch-marxistischen Ideologie, wie manch ein westdeutscher Professor zu wissen glaubt?

Im Gegenteil. Diese Meinungen sind mir in der Tat auch begegnet. Vor allem am Anfang, vor zwei Jahren, war es für mich aber erstaunlich, festzustellen, inwieweit die sogenannte marxistisch-leninistische Erziehung quasi spurlos an ihnen vorbeigegangen war. Ich als liberaler Konservativer fühle mich heute mehr als Marxist als sie. Meine Studenten in Rom haben mehr Verständnis für den Marxismus als ihre ostdeutschen Kommilitonen. Sie haben vom kommunistischen, vom antifaschistischen Widerstand gegen die Nazis fast nichts gelernt.

Von den Medien, die Vereinfachungen lieben, wird immer der Vergleich angestellt zwischen West- und Ostdeutschland mit Nord- und Süditalien. In einer großen Tageszeitung der rechten Mitte habe ich häufig den Begriff „Mezzogiorno Deutschlands“ als Charakterisierung der Lage der neuen Bundesländer im vereinten Deutschland gelesen. Darf man solche Parallelen ziehen?

Ich glaube, das ist Unsinn. Erstens, weil der Mezzogiorno Italiens 800 Jahre unter einer besonderen feudalen Herrschaft war. Die Gesellschaft dort hat eine eigenständige Kultur entwickelt. Sie hat Einflüsse von überall erfahren, arabische, spanische, nordafrikanische, und sie hat sich eben 800 Jahre lang so gefestigt, wie sie heute erscheint. Vieles an wirtschaftlichem Unvermögen oder an unbeherrschbarer Kriminalität dort hat historische Gründe, Stichwort „Mafia“. Das ist in Deutschland nicht der Fall. Hier gibt es keine wirklich tiefen Abstände der Kulturen, in dem Sinne wie im Süden Italiens. Es gibt nur große wirtschaftliche Unterschiede. Dieser Abstand kann aber überwunden werden, weil zwischen den deutschen Unternehmen die Verzahnung größer ist als zwischen denen Nord- und Süditaliens.

Das Gespräch führt Franco Foraci