Szenen eines Ausstiegs

Leben, wo andere Urlaub machen. Drei Portraits von Aussteigern, die ihr Glück auf der anderen Seite des Globus suchen und sich ihr Geld als Barbesitzer, Veranstalter oder Vermieter im Tourismus verdienen  ■ Von Volker Klinkmüller

Im Schatten der mächtigen Palme läßt es sich aushalten. Sanftes Meeresrauschen wiegt die Seele in leichten Schlummer, den nicht einmal das Plopp einer herabfallenden Kokosnuß stört. Ein warmer Luftzug trocknet die letzten Wassertropfen vom Erfrischungsbad in der Brandung. Nicht weit entfernt warten frischgepflückte Mangos, Ananas und Bananen auf den kleinen Hunger. Fangfrischer Fisch schmort über dem Feuer. Szenen eines Ausstiegs: Vom bundesdeutschen Alltag verabschiedet haben sich die drei Deutschen Uwe Bellmann, Jürgen Wegener und Egon Grünert. In der faszinierenden Bergwelt des Goldenen Dreiecks, dem berühmt-berüchtigten Seebad Pattaya und der noch weitgehend unberührten Inselwelt Ostthailands haben sie sich eine neue Existenz aufgebaut. Ihren Lebenstraum finanzieren sie vom Geschäft mit dem Tourismus.

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Das bullige Tuckern verstummt, als Uwe Bellmann den Zündschlüssel seiner Honda herumdreht und sich langsam von seiner Sitzbank schält. Dicke Lehmkrusten auf seiner Maschine und dem Bundeswehr-Overall sprechen eine eindeutige Sprache: Der gebürtige Buchholzer hat Motorrad- Touristen durch das Goldene Dreieck geführt. Über steile Paßstraßen und wackelige Hängebrücken ist er in den tiefgrünen Dschungel vorgedrungen und in manchem Schlammloch steckengeblieben. Die Strapazen der vergangenen Tage sind ihm nicht anzumerken. Uwe strahlt mit seinen 38 Jahren absolute Jugendlichkeit aus. „Frust frißt am Gesicht und am Magen. Viele Leute altern schnell, weil sie etwas machen, was sie eigentlich gar nicht wollen“, weiß er. Seit vier Jahren lebt Uwe auf der anderen Seite des Globus.

„Ich wollte nie für jemanden arbeiten, lieber alle Entscheidungen selbst treffen“, sagt Uwe. Als Beglaubigung fügt er seinen Lebenslauf hinzu. Am Anfang habe er sich dem Druck des Vaters gebeugt und in Hamburg eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann ertragen. Sieben Tage nach Beendigung der Lehre wollte Uwe einen freien Tag, um sein Auto durch den TÜV zu bringen. „Doch den freine Tag wollten sie mir nicht geben“, erinnert er sich. „Beim TÜV war ich trotzdem, und am Tag darauf habe ich gekündigt.“ Uwe verkaufte dann Lockenstäbe nach Skandinavien, schlug sich als Lkw- Fahrer durch. Später zog er nach Berlin, versuchte sich als Fuhrunternehmer, Flohmarkthändler und sogar als Makler – bis er 1983 in einer Kneipe die Thailänderin Boa kennenlernte. Mit ihr entdeckte er sein glückliches Händchen für die Gastronomie. In Berlin-Moabit eröffnete er selbst eine Kneipe und später das Thai-Restaurant „Ban Suan“ in der Kaiser-Friedrich-Straße. Das lief so gut, daß es mit Gewinn verkauft werden konnte. Der Erlös reichte für den Kauf eines heruntergekommenen Guesthouses in der nordthailändischen Stadt Chiang Mai.

Das vierstöckige Haus wurde grundlegend saniert, die Zimmer auf europäischen Standard gebracht, eine Köchin auf deutschen Rinderbraten und Pfeffersteak mit Salat und Pommes getrimmt. Uwe ließ 10.000 Visitenkarten drucken, verteilte sie frühmorgens in der Eisenbahn und Bussen vor Ankunft in der Stadt, so daß er allen anderen Schleppern zuvorkam. „Der Anfang war schwer, doch erst hier habe ich innere Zufriedenheit gefunden und erfahren, daß harte Arbeit nicht zwangsläufig Streß auslösen muß“, sagt Uwe. Der tägliche Umgang mit Touristen macht ihm Spaß. Schon so mancher ist durch die familiäre Atmosphäre, nach gemütlichem Thai-Dinner, durchzechten Nächten oder abenteuerlichen Dschungeltouren zum Freund geworden. Denn „Duang Dee!“ – „Glücklich leben!“ ist nicht nur das Erfolgsrezept seiner zehnjährigen Ehe mit Boa und der Name seines Guesthouses, sondern auch ein Angebot an die Gäste, die ihm geradezu die Tür einrennen.

Eine Rückkehr nach Deutschland kommt für Uwe nicht in Frage. „Da sind mir zuviel Deutsche! Ich vermisse höchstens Salami – und die bringe ich mir einmal im Jahr kiloweise mit!“ Nicht mehr verzichten könne er auf die vielen kleinen Freiheiten Thailands – und auf Nervenkitzel im Dschungel. „Ich brauche dieses satte Grün, kann mich auch mal an einer dicken Schlange freuen. Und wo ist es sonst noch möglich, in einer heißen Quelle zu planschen und sich einige Meter weiter unter einem Wasserfall abzukühlen“, schwärmt er von seiner zweiten Heimat. Daß er Natur und Einheimische mit seinen Motorrad-Touren, auf die er neuerdings auch Touristen mitnimmt, stört oder gar gefährdet, glaubt er nicht. Viel schlimmer sei, was die Chemiekonzerne unter den Bergstämmen Nordthailands anrichten. „Sogar in den letzten Winkeln findest du Leute, die Hautausschläge von Pestiziden haben“, erzählt Uwe. Sicher – Öko-Tourismus sei es nicht gerade, was er anbietet. „Aber wir fahren mit lärmgedämpften Maschinen, und solange die Menschen uns willkommen heißen, sehe ich da kein Problem!“

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Von einer ganz anderen Art Tourismus finanziert Jürgen Wegner den Ausstieg. Seine „Lake-Tahoe- Bar“ – zwischen Maßschneidern und Massagesalons, Boutiquen und Bordellen – ist eine von ungefähr 1.000 Open-Air-Bars an der Beachroad von Pattaya. Wenn sich das „Sündenbabel“ am frühen Abend auf die lange Nacht einstimmt, Lichterketten und Leuchtreklame die Stadt bunt erleuchten, sitzt Jürgen meist schon auf einem seiner Barhocker. Dort thront er manchmal bis zum Morgengrauen, um den Gang seiner Geschäfte zu überwachen. „Ohne Moos nichts los – das gilt auch im Paradies“, meint Jürgen. Wer sich Schlips und Aktenkoffer dazudenkt, könnte sich den 29jährigen auch leicht als Bankkaufmann vorstellen. Und genau das ist der gebürtige Hunsrücker auch. Daß er in Thailand gelandet ist, verdankt Jürgen eigentlich nur dem Kühlerschlauch seines Autos. Denn der ist vor gut einem Jahr auf dem Weg zum Flughafen geplatzt. „Damals hatte ich mein Flugzeug zu einem Kurzurlaub auf Malta verpaßt und entschied mich am Last-Minute- Schalter spontan zu einer Woche Pattaya“, erinnert er sich. Kurz – aber lange genug, um sich in die Thailänderin Saowanee zu verlieben. Jürgen kündigte bei seiner Bank in Wiesbaden und kaufte mit den Ersparnissen die Bar, in der er seine Freundin kennengelernt hatte.

Durch die 22jährige erlebte er Thailand wie nur wenige Ausländer. Einige Wochen hat Jürgen bei sengender Hitze mit Saowanees Mutter auf dem Reisfeld gestanden, abends dem Vater beim Altstoffsammeln mit der Fahrradrikscha geholfen und gemeinsam mit den Geschwistern das Elternhaus ausgebaut. Dann kam Weihnachten, das alle bisher nur aus dem Fernsehen kannten. „Ich habe Geschenktüten gebastelt, Nikolaus gespielt und ein dickes Menü gekocht, von dem das Dorf heute noch schwärmt“, erzählt Jürgen. In die Fremde habe es ihn schon lange gezogen – seit dem ersten Rucksackurlaub in Amerika, einer Brasilienreise und vier Wochen Segeltörn in der Karibik.

Daß er in Pattaya – 154 Kilometer östlich von der Hauptstadt Bangkok – hängengeblieben ist, kann Jürgen noch immer nicht fassen. Die Karriere des einstigen Fischerdorfs an der thailändischen Riviera begann während des Vietnamkriegs mit erholungsuchenden GIs. Dann kamen die Touristen, in den 80er Jahren der große Boom und schließlich die große Hatz der Medien. Doch in diesem Ort, meint Jürgen, gebe es mehr als käuflichen Sex, hohe Aids-Raten, verschmutzte Strände, Drogenhandel und Bandenkriminalität. „Hier kann man erleben, wie verschiedene Nationalitäten tolerant miteinander umgehen“, lobt er die internationale Atmosphäre des Seebads. Das Klima sei mild, das Vergnügungsangebot reichlich, das Leben locker und 24 Stunden am Tag etwas los. „Egal ob ich morgens um vier Pommes, Paella oder Pizza essen will - Pattaya schläft nie.“ Das mit der Bar sei allerdings nicht sein Milieu, hätte sich einfach so ergeben. Etliche Bankinstitute habe er mit seinen Bewerbungsunterlagen abgeklappert und lediglich erfahren, daß in Thailand alles andere leichter ist, als an die Arbeitsgenehmigung für einen Farang (weißen Ausländer) zu kommen. „Da war es mit dem Kauf der Bar schon leichter. 440.000 Baht (30.000 DM) cash auf den Tisch – und noch nicht einmal eine Quittung“, schmunzelt Jürgen.

Nun gleicht ein Abend dem anderen. Zu vorgerückter Stunde füllt sich Jürgens Bar mit Frauen, drumherum hocken die Touristen. Viele wollen mehr als eisgekühltes Singha-Bier, Mekong-Cola-Mix und ein paar Worte wechseln. Für 500 Baht pro Nacht verkaufen die Thais ihren Körper, weitere 150 gehen als „Auslöse“ über den Tresen. „Mir ist lieber, wenn ein Gast zehn Bier trinkt. Da verdiene ich sogar mehr dran“, beteuert Jürgen und versucht sich wieder im moralischen Klimmzug. Den Absturz vom Bankkaufmann zum Zuhälter weist er empört zurück: Seelentröster müsse er spielen, Briefe nach Europa übersetzen und auch mal mit Geld aushelfen. „Außerdem sind die Mädchen freiwillig hier und entscheiden selbst, ob sie mit Männern gehen. Das Gewerbe hier ist anders, auch mal Liebe mit im Spiel“, versichert Jürgen – wohl nicht zuletzt aus eigener Erfahrung. Wenn die Einnahmen der nächsten Hochsaison reichen, will er mit Saowanee weiter. „Zu irgendeiner einsamen Insel, um in Hängematten und Bambushütten zu leben“, wie er es sich früher hinter dem Bankschalter vorgestellt hatte.

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Auf einer solcher Insel siedelt bereits Egon Grünert. In einem der entlegensten Winkel Thailands – auf der Insel Koh Mak vor der Küste Kambodschas – hat der gewichtige Bauunternehmer aus BieleFortsetzung nächste Seite

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feld seinen Lebenstraum verwirklicht. Nur die „Neptune“ fährt hin. Mit dem Flair eines Seelenverkäufers schaukelt das zweistöckige Fährschiff am Hafenpier von Laem Ngop bei Trat. „Es fehlen nur ein paar Pinselstriche“, wirbt Egon um Vertrauen, als er an Bord des Holzbootes klettert. Während der dreistündigen Überfahrt zählt er auf, wie oft das Schiff schon in der Werft war, welche Unsummen er in „sein Sorgenkind“ investiert hat. Dann heben sich am Horizont die ersten Umrisse Koh Maks ab: Ein kleeblattförmiges Eiland, das mit einer Breite von fünf und einer Länge von neun Kilometern zu den größten von insgesamt 80 Inseln im Ostgolf von Thailand gehört. Die wenigen Bewohner leben von Gummiplantagen und Kokosnüssen, die auf dem Festland zu Seife, Speiseöl und Raspel verarbeitet werden. Flach und von vulkanischem Ursprung ist das Archipel.

„Inseln haben mich schon immer begeistert. Aber als ich zum ersten Mal nach Koh Mak kam, war es um mich geschehen“, gesteht Egons. In einem Palmenwäldchen am Strand hat er mit seinem thailändischen Geschäftsfreund Somchai „und endlich einmal ohne nerviges Genehmigungsverfahren“ das Au-Kao-Ressort („Ressort der weißen Bucht“) aus dem Sand gestampft: 13 Bungalows aus Naturmaterialien – und ein etwas größerer für die angegliederte Tauchschule. Abends zeugt das Rattern eines Stromgenerators von Zivilisation. Ein romantisches, mit zahlreichen Holzschnitzereien verziertes Rundrestaurant am Meer macht das Robinson-Dasein erträglich. Doch spätestens zur bevorstehenden Hochsaison wird die Touristenwelle wieder über die große Nachbarinsel Koh Chang hinausschwappen und Gäste an den Strand Koh Maks spülen. Die schätzen außer der sagenhaften Ruhe vor allem die völlig unzerstörte, fischreiche Unterwasserwelt. Im Gegensatz zu anderen Regionen Thailands sind die Korallenbänke hier noch nicht von Ankern zertrümmert, Plastikflaschen auf dem Meeresgrund eine Rarität. „Löwenfische, Pfeilhechte, Stechrochen, Delphine, Merline, Schwarzpitz-Haie und sogar Schildkröten“ gibt es hier. Daß der jährlich wachsende Tauch-Tourismus die intakte Natur in Mitleidenschaft zieht, fürchtet Egon nicht. „Bisher habe ich noch nie erlebt, daß ein Gast etwas aus dem Meer geholt hat. Die benutzen ihr Messer höchstens um Reusen rauszuschneiden.“

Vor sieben Jahren hatte der gebürtige Chemnitzer sein Baugeschäft in Bielefeld verkauft, Ehefrau und Deutschland den Rücken gekehrt. Kraft für den Befreiungsschlag tankte er schon auf der ersten Thailand-Reise. „Ich war begeistert, daß hier alles so locker ist, sich zum Beispiel alle beim Vornamen nennen.“ Eine Kneipe, Entenfarm und Wasserfabrik zählten zu Egons erfolglosen Versuchen, auf dem Festland Fuß zu fassen. Nun erwartet er außer Urlaubern weitere Nachbarn (als Teilhaber), die bei 32 Grad im Palmenschatten und Kokosnuß-Weitwurf-Wettbewerben ebenfalls nicht mehr tangiert, was in übrigen Teilen der Welt ausgefochten wird. Staus, Steuererhöhungen und Schlechtwettermeldungen in seiner alten Heimat interessieren Egon nur noch am Rande. „Aufregender ist schon dieses Boot, das sich hier letzte Woche herumgetrieben hat. Da saßen nämlich Piraten drin“, hat er von Einheimischen erfahren. Doch solange die nicht an seine Tür klopfen, könne er ruhig schlafen. „Zwölf Stunden am Tag sind Minimum“, verrät der 54jährige, der sich nichts schöneres vorstellen kann, als auf dieser Insel eines Tages auch zur allerletzten Ruhe gebettet zu werden.