Kommentar
: Nationalismus ohne Reue

■ Die Ukraine hat keine Rechtsextreme

Hat die Demokratisierung der Ukraine zu einem Ansteigen des Nationalismus geführt? Nein. Heißt das, daß es in der Ukraine als einzigem postkommunistischen Land keinen Nationalismus und keine Nationalisten gibt? Auch nein. Es gab ihn dort ganz einfach immer, und er war vor dem Ende des Kommunismus genauso stark wie danach.

Zu Zeiten der UdSSR wurde jeder antikommunistische Ukrainer automatisch zu einem „Patrioten“, wie er sich sah, oder einem „Nationalisten“, wie der KGB ihn sah – zu einem, der sich für die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine von der UdSSR einsetzte. Damals dachte kein Mensch darüber nach, ob diese unabhängige Ukraine nur für die Ukrainer sein sollte und ob die beste Art, sie später zu regieren, eine Diktatur oder eine Demokratie wäre. Besuchern aus dem Westen fällt heute zumeist auf, daß praktisch nur die kommunistischen und postkommunistischen Gruppierungen keine nationale Phraseologie benutzen. Gleichzeitig existieren acht oder neun nationale Parteien, die minimalen politischen Einfluß haben.

Antisemitismus – dieser unverwüstliche Bestandteil eines jeden europäischen Nationalismus – ist dagegen bei den ukrainischen Nationalisten kaum sichtbar. Die Gründe dafür liegen zum einen darin, daß sich von den großen Gruppierungen der nationalistische Flügel meist abgespalten hat und die Nationalbewegungen nun auf dem Weg dazu sind, normale Links- oder Rechtsparteien zu werden. Ein Teil der intellektuellen Elite versucht auch, eine Neudefinition des Begriffs „Nationalismus“ vorzunehmen, wie etwa der frühere Gulag-Häftling Michailo Horyn, der den „Nationalismus“ nicht mit dem Volk, sondern mit Staat und Land verbinden will, was unserem Patriotismus schon recht nahe kommt und auch für die Minderheiten akzeptabel wäre.

Die meisten ukrainischen Politiker sind sich darüber im klaren, daß 10 bis 15 Prozent der ukrainischen Bevölkerung zur russischen Minderheit gehören und jeder Konflikt mit ihnen zum Untergang des ukrainischen Staatswesens führen kann. Auch in der früheren kommunistischen Nomenklatura gibt es niemanden – anders als in Rußland oder Jugoslawien –, der sich nationalistischer Slogans bedienen will. Der repräsentativste Vertreter der alt-neuen Nomenklatura, Präsident Leonid Krawtschuk, wiederholt immer wieder, daß alle Konflikte friedlich gelöst werden müssen. „Wenn nicht, dann gehen die Leute auf die Straße und greifen nach den Gewehren. Und ich bin ein Feigling“, gab er einmal zu. Die Ukrainer lächelten ein bißchen mitleidig über ihren feigen Präsidenten, aber im Innersten ihrer Seele haben sie ihm recht gegeben. So ist kaum anzunehmen, daß die nationalistischen Parteien an Popularität gewinnen werden. Ihr Element sind schließlich Straße und Gewehr. Andrzej Lomanowski, Übersetzung: Klaus Bachmann

Der Autor ist Kiewer Korrespondent der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“.