■ Die Havarie: Alles halb so schlimm?
Am 13. April, eine Woche nach der Atomexplosion in Tomsk-7, veröffentlichte die Untersuchungskommission ihren ersten Bericht über den Verlauf des Unfalls und Meßergebnisse. Darin heißt es: „Am 6. April 1993 um 12.58 Uhr kam es in der radiochemischen Fabrik im Sirbirischen Chemischen Kombinat (SCK) zur Zerstörung des technischen Apparates N6102/2“ – offenbar aufgrund eines technischen Defekts. Der Apparat diente der Vorbereitung von Uranlösung zur Extraktion und wurde, während der Prozeß des Ausfällens der organischen Phase der Lösung stattfand, „zerstört“, noch bevor die Reaktion mit konzentrierter Salpetersäure stattfand.
Die dampfende Mischung explodierte und wurde „in den Apparate-Saal hinausgeschleudert“. „In der Folge kam es dann zur Vergrößerung der Zone“, als zuerst die Glasabtrennungen und dann die Wände des Apparate-Saals zerstört wurden. „Ein Hinausschleudern von Radioaktivität in die nähere Umgebung fand statt.“
Insgesamt betrug die Radioaktivität an Beta- und Gamma- Radionukliden in der Umgebung nach dem Bericht 40 Curie. Am Tag nach der Havarie hatte ein Sprecher des Atomministeriums nur von einem Curie gesprochen. Die Wolke wurde vom Wind nach Nordosten getragen, kam aber nicht weit, weil es ab 15.05 Uhr heftig zu schneien begann. Nach den Messungen definierte die Kommission „die Zone“ auf eine Länge von 40 Kilometern mit einer Fläche von 25 Quadratkilometern (s. Karte). Mitten in der Zone, 16 Kilometer vom Ort der Havarie entfernt, liegt das Dorf Georgiewka, dessen 150 Bewohner ins Nachbardorf Naumowka evakuiert wurden.
Bei der Explosion wurden die Radionuklide Rutenium 103 und 106, Zirkonium 95, Niobia 94 und 95, Uran 234 und 238 sowie Plutonium 239 frei. Nach dem Untersuchungsbericht war die Menge des Plutoniums so gering, daß keine Gefahr von ihr ausgehe. Hierzulande betrachtet man allerdings auch winzigste Mengen Plutonium, das zusätzlich zur Strahlung hochgiftig ist, für gesundheitsschädlich.
Direkt am Apparat dürfte, heißt es, die gesamte Gamma- Strahlendosis direkt nach der Havarie fünf Röntgen pro Stunde betragen haben. (1 Röntgen entspricht ungefähr 1 Rem.) Im Dorf Georgiewka habe es Punkte mit deutlich erhöhter Strahlung gegeben, während direkt daneben kaum eine Strahlenbelastung festzustellen war.
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace beurteilt den Bericht der russischen Untersuchungskommission skeptisch: „Das liest sich wie ein Rechtfertigungsbericht, der extra so angefertigt wurde, daß als Ergebnis ein ,Alles halb so schlimm‘ herauskommen muß“, sagt Greenpeace-Atomexpertin Inge Lindemann. So wimmele der Bericht von Zahlen, die nicht zusammenhingen und darum wenig aussagekräftig seien. Nach Lindemanns Angaben wurden nach der Havarie 492 Feuerwehrleute mit jeweils 600 Millirem verstrahlt. Die deutsche Bundesregierung hält 60 Millirem pro Jahr für gesundheitlich verkraftbar, während Umweltgruppen jede radioaktive Belastung für zuviel halten. dri
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