Botho Strauß kriegt schulfrei

Warum die Schule zur Politik erziehen muß, und was die 68er damit zu tun haben  ■ Von Christian Füller

Wie konnte Hentig bloß diese Titelei zulassen? In Digital-Lettern steht da Die Schule neu denken. Kaum von einem Computerfachbuch zu unterscheiden, geht das gar nicht zusammen mit dem, was Hartmut von Hentig schreibt. Der Computer! Hentig urteilt vernichtend über ihn, zumal in der Schule. Er markiere die unheimlichste jener „schwierigen Veränderungen“, die der Schule zusetzen. Zersetzen hätte der Bielefelder Pädagoge wohl am liebsten geschrieben. Der elektronische Datenverarbeiter mache in der Schule „im Prinzip alles zunichte, was sich die Pädagogik seit Beginn unseres Jahrhunderts ausgedacht hat – zum Wohl des Kindes wie der Gesellschaft“.

Dieser Satz steht am Ende eines Abschnittes, der Hentig zum Plädoyer geraten ist. Ein Glück. Oft genug verliert sich der 68jährige im zwar aufschlußreichen, aber mäandernden Räsonnement. Doch hier hat den weißhaarigen Gelehrten noch einmal der Zorn gepackt. Richtig lästern kann er über die „didaktischen Begleitkommentare“ zur Einführung von Computern im Unterricht. Man würde dem grand old man der Pädagogik nicht gerecht, würde man bei seinem beißenden Spott stehenbleiben. Seine Essentials lauten: Das Kind muß sich das Wort und seinen Gebrauch in den fundamentalen Kulturtechniken Sprechen, Schreiben, Denken aneignen, bevor es an den Computer geht. Und die Schule sollte, muß Computer einsetzen, aber: nur „in streng dienstbarer Form“.

Zurück zum Titel: „Schule neu denken“. Hartmut von Hentig tut das nicht. Ein Blick auf seine Bücherliste und die Praxis der „Bielefelder Laborschule“ zeigen, daß er sie nur erneut und nun energischer für seinen LeserInnen denkt. Weil die Gesellschaft geschockt ist von der Gewalt unter Jugendlichen. Die zweite, schlechtere Nachricht sind die Taten gegen Minderheiten, begangen von Jugendlichen „die ungeniert, nein, stolz mit Nazi-Emblemen und -Parolen auftreten“. Das verstöre tiefer und nachhaltiger, „weil man ahnt, daß es sich um die ,psychosozialen Kosten‘ (K. Hurrelmann) einer von uns gewollten und jedenfalls zu erwartenden Lebensweise handelt“. Mit verbessertem Unterricht, weiß Hentig, sei dem nicht beizukommen. Und dennoch legt er seine Verbesserungen dar. Ein trotziger Idealist.

Dieser Idealismus fußt auf der antiken, der griechischen Vorstellung einer polis. Hentig macht aus der Schule eine polis discipuli, einen „Lebens- und Erfahrungsraum“. Das ist etwas Besonderes, wie er zeigt. Denn stärker denn je wird die Schule ausschließlich als Lernort begriffen: Wo man sich die am Arbeitsmarkt verkäuflichen Kenntnisse und Fertigkeiten abholt, um später mal einen Job zu kriegen. Das ist Hentig viel zuwenig. Seine Schule soll erstens mehr, nämlich in die politische Kultur einführen. Und sie geht zweitens auch didaktisch über die reine Unterrichtsschule hinaus. „Denn wir müssen es mit den Lebensproblemen der Schüler aufnehmen, bevor wir ihre Lernprobleme lösen können“, so der Hentigsche Lehrsatz eins. Der zweite zielt darauf, daß Schule auch Lebensort ist; also der Ort, an dem man lebt und – so problematisch sie sind! – die wichtigsten Lebenserfahrungen machen kann. „Wir brauchen eine ,Erziehung‘ zur Politik“, heißt der dritte Lehrsatz, der dem inzwischen emeritierten Professor der wichtigste ist: Auftrag der öffentlichen Schule in der Demokratie ist nicht die Ausbildung von Facharbeitern, sondern „Kinder und junge Menschen zu politikfähigen, politikbereiten und verantwortungsbewußten Bürgern zu machen“. Ihren rechten Stellenwert bekommt diese bewußte Erziehung zur Politik erst, wenn man einen Seitenblick auf die Vertreter der momentan bestgehandelten Alternativen wagt: Sie deuten auf Europa und wollen einen besseren Output marktfähiger Absolventen. Oder sie wollen zurück marsch, marsch zur Erziehung qua Sekundärtugenden: „Gemeinschaftsbewußt, diszipliniert und pflichtbewußt“ soll die Jugend sein.

Der Satz stammt vom CDU- Abgeordneten Helmut Linssen, und der wäre Hentig wahrscheinlich nicht zwischen die Buchdeckel gekommen, wenn da nicht die Frage wäre: Tragen die 68er Schuld an der Jugendgewalt? Hentig bittet, ganz Pädagoge, Helmut Linssen und Botho Strauß und Konrad Adam (FAZ) noch einmal auf die Bänke einer Klippschule. Thema: Bildungsreformen wg. 1968. Exemplarischer Unterrichtsgegenstand: das „legendäre katholische Arbeitermädchen vom Lande“. Dieser Bildungsbenachteiligten schlechthin war der Zugang zu den expandierenden Bildungseinrichtungen zu öffnen, wo sie nicht nur mehr lernen sollte. Die Bildung selbst mußte sich ändern, erinnert sich Hentig. Sie war „in den Dienst der gefährdeten polis zu nehmen“.

Warum das alles erst 1968? Weil nach 1945 die Frage verdrängt worden ist, „daß deutsche Menschen mit der Bildung von einst den Nationalsozialismus so blind hatten bejahen können“. Und das Schulsystem, Relikt des undemokratischen Preußen, war so geblieben, wie es war: „Objekt staatlicher Anordnung und Verwaltung – und autoritär“.

Hentig freilich kann mit seinen Schülern umgehen. Konrad Adam erläutert er geduldig, daß „die 68er“ eine marginale Gruppe waren – sogar unter Pädagogen; daß das Wörtchen „antiautoritär“ falsch war und in die Unterrichtsziele gar nicht einging; daß die eigentlichen Ziele, vor allem das „speak your mind“, schon gar nicht in der DDR hochgehalten wurden – dort, wo der Damm gegen pogromartig ausbrechende Gewalt am schwächsten war. Botho Strauß kriegt frei. Mit „dem einsamen Rechten“ setzt sich Hentig nicht auseinander, unangreifbar, wie der „durch die Irrationalität seiner Anklagen“ geworden ist. Und dem pflichtbewußten Linssen gibt Lehrer Hentig ein Exempel: den Mauerschützen. „Von ihm ... verlangen wir, er hätte aufbegehren sollen gegen die falsche Vereinnahmung, die falsche Pflicht, die falsche Disziplin. Wie sollte er das, ohne je zu Kritik und Selbstkritik ermutigt worden zu sein?“

Hartmut von Hentig: „Die Schule neu denken“. Hanser Verlag, München/Wien 1993, 267 S. 34 DM