■ Dokumentation: Ein Brief von Knut Folkerts
: „... Irmgard endlich einmal treffen...“

Getroffen hab ich Irmgard nie. Nahe gekommen sind wir uns schon. 1972 – viele, die heute kämpfen, wurden damals geboren – war das Jahr der ersten Angriffe der RAF und ihrer fast vollständigen Gefangennahme. Ich jobte um die Ecke, da landete zum ersten Mal ein BGS-Hubschrauber auf dem Gelände von Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft. Irmgard wurde dem Haftrichter und ein paar ausgesuchten Journalisten vorgeführt, um danach in einer Isolierzelle zu verschwinden. Für wie viele Jahre, konnte sich damals niemand vorstellen.

Meine Post an sie wurde vom BGH zurückgeschickt: „Briefverkehr mit Nichtangehörigen ist untersagt“ – Teil der bald normalisierten Sonderbehandlung mit dem Ziel, die Gefangenen zu brechen, und Anfang dessen, was heute – nach 21 Jahren – gegen Birgit Hogefeld grade so weitergeht, nur routinierter und ausgefeilter, wie alles hier immer so weitergehen soll.

1973 unterwegs für Organisierung, ruf ich vom Trottoir über die Mauer des Rastatter Gefängnisses. Ein Versuch, weshalb nicht? Aber Irmgard ist tief weggebunkert. In den folgenden Jahren verbinden uns gemeinsame und unterschiedliche Kämpfe. Die meisten Achtundsechziger sind ja anderweitig unterwegs, auf dem „Marsch durch die Institutionen“ usw.

77 versuchten wir, die politischen Gefangenen zu befreien. Irmgard überlebt als einzige der Stammheimer. 1980 bin ich selbst in einem der Schließfächer im siebten Stock. Von dort sehe ich den Hubschrauber, der sie nach Lübeck transportiert, von einem Trakt zum anderen, aber zu Genossinnen. Viele Hungerstreiks, Kämpfe fürs Leben, für die minimalsten Lebensbedingungen, nicht weit vom Tod entfernt, in all den Jahren.

Fünfundzwanzig Jahre ist es her, seit mit dem vietnamesischen Dorf My Lai weltweit sichtbar wurde, mit welchen Mitteln und Methoden der Imperialismus seine Freiheit durchsetzt: Hunderte, die meisten Kinder und Frauen, alle unbewaffnet, wurden als „Vietcong“-Sympathisanten massakriert. Irmgard hat praktisch Partei ergriffen, wie viele andere weltweit, und (nicht nur) gegen diesen Völkermord, den zugrundeliegenden Interessen und Strukturen bewaffnet gekämpft. Während die Massenmörder dort und ihre Unterstützer hier frei sind, ist Irmgard noch heute gefangen. 21 Jahre der Vernichtungsabsicht ausgesetzt, die all jene trifft, die sich aktiv widersetzen, wie zuletzt Wolfgang Grams. Im (selektiven) Ausnahmezustand legt das System sein Wesen frei und wird kenntlich. Nach der herrschenden Logik hat das alles seine Richtigkeit. So selbstverständlich und natürlich wie der Wahnsinn eines globalen Systems, das der Mehrheit der Weltbevölkerung tagtäglich wie eine gefräßige Maschine Leben raubt, um Profit daraus zu machen, oder deren Existenzrecht bestreitet, weil sie nicht mehr zu verwerten ist. Gründe genug, diese ganze Logik zu überwinden.

Bald 22 Jahre, so lange wie keine andere politische Gefangene in Europa, länger als jede Gefangenschaft in Diktaturen wie Chile oder in der Nato-Demokratie Türkei, sprechen von der Entgrenzung der Macht, wie sie in Deutschland konstitutiv geworden ist, wie von der beschämenden Schwäche gesellschaftlicher Gegenkräfte.

Keinen Tag länger akzeptieren. Freiheit für Irmgard Möller!

Für die Freiheit aller politischen Gefangenen!

(Nach mehr als zwei Jahrzehnten möchte ich Irmgard endlich mal treffen, das ist doch klar!)

Oktober 1993Knut Folkerts