Kein Bock auf Dorfpolitik

■ Vor der Kommunalwahl in Brandenburg werden händeringend Kandidaten gesucht

Potsdam (taz) – Stellt Euch vor, es ist Wahl, und keiner kandidiert. Unvorstellbar in den alten Bundesländern, aber traurige Realität im Land Brandenburg. Bei der anstehenden Kommunalwahl am 5.Dezember „droht eine Katastrophe“, so Landrat Bodo Ihrke, sollten sich nicht noch weitere BewerberInnen finden. Im ehemaligen Kreis Eberswalde, dem Ihrke vorsteht, gibt es für 15 von insgesamt 37 Gemeindevertretungen bisher nicht genügend KandidatInnen. Die Meldefrist läuft am 28.Oktober ab. „Und noch größer ist das Problem, ehrenamtliche Bürgermeister zu finden.“

Eberswalde ist kein Einzelfall. Vier Jahre nach der viel umjubelten ersten demokratischen Kommunalwahl, noch unter Lothar de Maizière, ist das Interesse der BürgerInnen an Mitsprache und Teilnahme im Osten gleich Null. Der SPD-Landesvorsitzende Steffen Reiche rechnet damit, daß seine Partei nur in etwa einem Drittel der Gemeinden mit eigenen Kandidaten antreten kann. Der jungsche SPD-Chef versucht derzeit verzweifelt, mit Werbeveranstaltungen an der Basis weitere Kandidaten zu gewinnen. Wie ein Wahlkämpfer in eigener Sache reist er durch das Land. Dabei steht von den 6.500 Genossinnen und Genossen im Lande schon jeder zweite auf einem Wahlzettel. Eine hohe Quote, die dennoch nicht ausreicht, um alle 1.800 Gemeindevertretungen und 14 Kreistage abzudecken. Erst recht nicht, wenn man so gerne gewählt wird wie die SPD.

Der Kommunalwahl kommt aus mehreren Gründen große Bedeutung zu. Zum einen besiegelt sie die viel diskutierte und umstrittene Gebietsreform. In Brandenburg gibt es dann nur mehr vierzehn statt 38 Kreise und vier statt sechs kreisfreie Städte. Zudem hat der Urnengang Signalwirkung für die Landtagswahl im kommenden Jahr.

Die in einer wackeligen Ampelkoalition regierende SPD will testen, ob sie auch ohne Partner auskommen, also mit einer absoluten Mehrheit regieren könnte.

Reiches Kandidatensuche ist an diesem Tag im Kreis Eberswalde nicht von Erfolg beschieden. Im Ortsverband Oderberg will er sich zusammen mit Landrat Ihrke einer Bürgerdiskussion stellen. Der Unterbezirksvorsitzende Claus Hopke hat unter dem Motto „Klartext“ in den Gasthof „Schwarzer Adler“ geladen. Im ganzen Ort hängen die Plakate. Ein großer Saal steht bereit. Aber es kommt niemand. Kein einziger Bürger interessiert sich für die Veranstaltung mit dem Vorsitzenden der Regierungspartei Brandenburgs. Erstaunlich ist zudem, daß auch die fünf SPD-Kandidaten für die Kommunalwahl in Oderberg, die sich auf der Veranstaltung eigentlich den Bürgern vorstellen sollten, nicht gekommen sind.

So sitzen Reiche, der Landrat und der Unterbezirksvorsitzende einsam an einem Tisch und sinnieren über die Folgen des sich abzeichnenden Desasters. Sollten sich bis zum 5.Dezember nicht genügend KandidatInnen für die Gemeindevertretungen finden lassen, „dann werden diese Gemeinden erst einmal vom Kreis zwangsverwaltet“, meint Ihrke. Die Kreisverwaltung würde dann den Haushalt dieser Gemeinden festlegen und die „laufenden Geschäfte“ führen.

Alle Gemeinden, die keine eigenen Gemeindevertretungen haben, müssen sich dann mit benachbarten Kommunen zusammenschließen. In diesen „Großgemeinden“ wird später neu gewählt. Steffen Reiche rechnet mit „ungefähr einem Jahr“, bis in allen Gemeinden Brandenburgs schließlich Kommunalvertretungen gewählt sind.

Der Unterbezirksvorsitzende sucht nach Gründen, weshalb die BürgerInnen an diesem Abend nicht erschienen sind. „18 Uhr war keine gute Zeit, da arbeiten viele Bauern noch“, stellt er fest, aber er scheint es selbst nicht ganz zu glauben. Später gibt Hopke zu, daß „die Leute andere Probleme“ haben, als sich um Politik zu kümmern. Zudem sei „wenig Vertrauen in die Politik da“. Vor allem Angestellte und Selbständige hätten keine Zeit für die Arbeit in den Gemeindevertretungen. „Den Unternehmern steht das Wasser bis zum Hals.“ Deshalb bemüht sich der Landrat jetzt, vor allem „Vorruhestandsleute“ zur Kandidatur zu bewegen.

Bodo Ihrke ist mittlerweile sogar egal, welcher Partei die KandidatInnen angehören. „Es gibt parteilose Abgeordnete, die sind hervorragend.“ In der Not kennen selbst Parteien keine Parteien mehr, sondern nur noch Patrioten – wie einst der Kaiser sagte. Anja Sprogies