: Das Staatsschiff ist längst leck
Der deutsche Fürsorgetag debattierte das Thema „Gewalt – Folgerungen für die soziale Arbeit“: Fördert Sparpolitik eine „Gewaltexplosion“? ■ Aus Mainz Klaus-Peter Klingelschmitt
„Mohren köpfen – Neger küssen“ nannte ein Kabarettist aus Wuppertal, der den haupt- und ehrenamtlichen Sozialarbeitern, den Verbandsfunktionären und den Politikern auf dem 73. Deutschen Fürsorgetag in Mainz schon am Donnerstag in den Morgenkaffee „spuckte“, seine provozierende Performance zum Thema Gewalt. „Gewalt – Folgerungen für die soziale Arbeit“ nannte der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge in Frankfurt/Main das Motto des Fürsorgetages, denn die „versteckte Gewalt“ – so die Vereinsvorsitzende Teresa Bock – dränge immer häufiger auch hilflose Kinder und behinderte und alte Menschen an den Rand der Gesellschaft. Der problematische Umgang mit der „Herausforderung Gewalt“ (Bock) wurde auf dem Fürsorgetag in der Rheingoldhalle auf (fast) allen Ebenen gepflegt: auf elf differenten Foren zum Thema, einem großen sozialpolitischen Forum mit Prominenz aus Politik und Wissenschaft und mit zahlreichen, mehr oder weniger gelungenen Ausstellungen und Selbstdarstellungen vor allem freier Gruppen aus der Region.
Daß am Donnerstag, am „Tag der Foren“, (fast) alle Veranstaltungen ausgebucht waren, war den Initiatoren gestern Beleg für Rat- und Hilflosigkeit auch der professionellen „Helferinnen und Helfer“ aus ungezählten sozialen Projekten im Umgang mit dem „Gewaltphänomen“. Auf den Foren war viel die Rede von „struktureller Gewalt“. Doch eine Neudefinition der aus den Tagen der 68er Revolte resultierenden schlagwortartigen Zusammenfassung staatlicher Repressionsmaßnahmen und einengender Rahmenbedingungen fand nicht statt, wie Teresa Bock rückblickend einräumen mußte. Daß die Ursachen(er)forschung und die Analyse von Gewaltverhältnissen auf allen Ebenen der Gesellschaft nicht zwangsläufig Lösungsmodelle zeitige, war denn auch für den Geschäftsführer des Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Wienand, die (!) Erkenntnis nach drei Kongreßtagen: „Wir stehen erst am Anfang der Debatte.“
Vielleicht hatten sich Initiatoren auch zuviel auf einmal vorgenommen: Armut und Gewalt, Wohnungsmarkt und Gewaltphänomene, „Fremden“-Feindlichkeit, Gewalt gegen Kinder, Frauen und alltägliche Gewalt, Bevormundung und Gewalt in der Pflege waren nur einige der Themen, mit denen sich der Kongreß beschäftigte. Dabei zog sich die Kritik an der Sparpolitik von Bund, Ländern und Kommunen wie ein roter Faden durch die Foren und auch durch das sozialpolitische Forum im Congreß Centrum der Rheingoldhalle. Die Streichung von Zuschüssen für soziale Projekte, die Kappung ganzer Haushaltstitel durch die Kommunen und die Haushaltskonsolidierungspolitik von Bundesfinanzminister Waigel „auf dem Rücken der Armen“ bedrohten gute Ansätze auch in der Gewaltpräventionsarbeit und provozierten neue „gewalttätige Verhältnisse“. Eine „heuchlerische Veranstaltung“ nannte der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Manfred Scholle, etwa den „runden Tisch“ des Bundeskanzlers zur Gewalt, denn durch die Kohlsche Politik würden bundesweit Jugendeinrichtungen „weggehauen“, Langzeitarbeitslose in die soziale Verelendung und die Städte und Gemeinden – die Hauptträger sozialer Einrichtungen – „in den Abgrund“ getrieben.
Weil der Staatssekretär im Bundessozialministerium, Werner Tegtmeier, davon gesprochen hatte, daß das „Staatsschiff“ wieder „getrimmt“ werden müsse und alle an die Ruder zu gehen hätten, ging auch der Direktor des Institutes für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, Meinhard Miegel, auf sanften Konfrontationskurs zu Bonn. Tegtmeiers „Schiff“ sei längst leckgeschlagen, sagte Miegel. Doch der Wirtschaftswissenschaftler zog – sehr zum Unmut des Auditoriums – andere Schlüsse aus der latenten Wirtschaftskrise und den daraus resultierenden Gewaltverhältnissen als die anwesenden Sozialwissenschaftler. Miegel: „Die vierzig fetten Jahre sind vorbei. Ab heute müssen wir deutlich bescheidener werden – auch was das soziale Anspruchsdenken anbelangt.“
Für die überwiegende Mehrheit der KongreßteilnehmerInnen stand dagegen fest, daß zusätzlicher finanzieller Druck auf die Ärmsten der Armen für eine „Explosion“ der ohnehin schon latenten Gewaltverhältnisse sorgen werde: In den dann pauperisierten Familien, beim Kampf um die letzten Arbeitsplätze, in den Beziehungen der Geschlechter zueinander (Männergewalt) und nicht zuletzt auch bei der Ab- und Ausgrenzung von gesellschaftlichen Randgruppen. Und wie kann die prognostizierte Gewaltwelle – abstrahiert von den monetären Rahmenbedingungen – noch gestoppt werden? Teresa Bock zitierte Adorno: „Die einzig wahre Kraft gegen das Prinzip Gewalt wäre Autonomie, die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen