Inhaltliche Rekordhöhe gesprungen

■ Schauspielhaus: Saisoneröffnung mit Rainald Goetz und Elfriede Jelinek Von Till Briegleb

Um eine neue und demonstrative Hinwendung zur Autorität von Texten, die Ergründung einer zeitgenössischen unstaatlichen Sprache und das Ringen mit ihren Möglichkeiten und Grenzen ging es dem Team des Frank Baumbauer bei ihrer programmatischen, ersten Spielzeiteröffnung. Diese Artikulation einer wiederkehrenden Intellektualität am Theater sollte gleichzeitig mit dem Beweis verbunden werden, daß die neue Generation von Regisseuren, Dramaturgen, Autoren und Schauspielern, die hier zum Zuge kommt, tatsächlich verinnerlicht hat, daß Diskurs ohne Sinnlichkeit am Theater zum Sündenfall wird. Denn den intellektuellen Bohrer auf die Stirn zu setzen, ohne mit der freien Hand etwas tiefer zu greifen, kann sich kein Theater über Dauer erlauben, das sein Publikum liebt.

So gesehen lag die Meßlatte gleich beim ersten Versuch auf Deutscher Rekordhöhe, denn Rainald Goetz' „abstraktes Familienstück“ Kritik in Festung und Elfriede Jelineks Wühlarbeit im philosophischen Gesinnungskeller Wolken.Heim. sind Textvorlagen, die sich gegen jeden locker-vergnüglichen Zugang verigelt haben. Goetz' konstruktiver Sprachwahn, vielleicht noch mehr als Jelineks Zitatencollage, verlangen vom Leser eine Einlassung, die brutale Frustrationserlebnisse ebenso beinhaltet wie unfallartige Erkenntnisse.

Rainald Goetz - Kritik in Festung

Der dramaturgische Einfall, das Publikum auf die Hinterbühne zu plazieren, dessen Logik sich im Verlauf des Stückes uhrwerkhaft erfüllte, versetzt den Zuschauer zuerst in eine Werkstattbühne. Wie ein alptraumhaftes Kinderbuch der Ur-Großvater-Zeit enthüllt sich die erste „Festung“. Ein Guckkasten mit dichtgedrängten hohen Tannen, einer Wolfsfamilie und schweren Möbeln beherbergt biertrinkende Struwwelpeter-Figuren. Drei Brüder (Peter Jecklin, Josef Ostendorf und Michael Wittenborn) und ihre geisterhafte Schwester auf dem Schrank (Sabine Wegner) warten auf die Ankunft des „Alten“ (Christoph Engel), der auf einer fiktiven Bühne hinter dieser Bühne bei der Vorstellung ist.

Zerstückelte Erinnerungen und alptraumhafte Phantasien ergreifen von ihnen Besitz, Angst, Verdrängung und Poesie kochen in der kalten Atmosphäre eines Biedermeier-Märchens über den Rand der verordneten Bravheit. Der hier eingefangene Todeshauch grausam strafender Erziehung, wie ihn die Kinderbücher des letzten Jahrhunderts verströmen, wird immer wieder attakiert von höchst erwachsenen Assoziationen aus der Jetztzeit. Die Anstalt Familie in ihrer paranoiden Isolation sieht aber auch immer wieder Momente der Anarchie, der Befreiung, des komischen Regelverstoßes.

Kritik in Festung ist, trotz aller sprachlichen Kraftschmiederei, ein ungemein optimistisches Stück. Es erzählt von Befreiung, von Findung und einer schmerzlich errungenen Selbstverständlichkeit des Lebens, die Abschied nimmt von den Zwängen des Ursprungs. Die Angst vor der Freiwilligkeit des Seins, die in die vollständige Unterwürfigkeit führt, erleben die vier Kinder durch den „Alten“, der sie despotisch in seinen patriachalen Idealismus einfügt. Sein Auftritt als Meister der Zucht und der Lyrik der konventionellen Macht verändert das Gleichgewicht aus Angst und Sehnsucht hin zum erlösenden Moment der Rebellion und der neuen Weltenöffnung.

Vom Vater zum Arzt und zum Philosophen führt sein Verfall, während die Kinder von Sklaven zu Schatten sich schließlich in Lebewesen verwandeln, die Selbstachtung, Euphorie und Humor erleben. Mit der Öffnung der Bühne zum Zuschauerraum und dem Verlassen der Festung durch die Kinder hat Regisseur Anselm Weber hierfür ein emphatisches Bild gefunden, daß er mit einer überaus sicheren Geschicklichkeit entwickelt. Die Korrespondenz von Schönheit und Beängstigung beherrschen er und sein Team Bettina Walter (Kostüme), Raimund Bauer (Bühne) und Wilfried Schulz (Dramaturgie) mit klug kalkuliertem Pathos und brillant genauer Textarbeit. Die blühende Phantasie ihrer Interpretation ist eine würdige Variation des Goetz'schen Stammes.

Elfriede Jelinek - Wolken.Heim.

Steigen diese sechs Frauen von der Erde zum Himmel hinab, wo sie die Heimat suchen, um die Hölle zu finden? Ihre Worte sind sanktionierter Wahn, liedhaftes Erbrechen nationalistischer Erbauung. Sie kommen über eine Feuerleiter in ein Gedankenloch, zwischen Wände germanischer Megalomie und Todessehnsucht. Dichter- und Denkerworte tropfen von ihren Lippen, versteinern auf dem Wissensfundament der deutschen Geschichte zu Gesichtern des Todes. Jelineks Verschränkung von Texten nationalistischer Philosophie, libidinöser Heimat-Begeisterung und RAF-Briefen konstruiert Bezüge über den zwingend katastrophalen Ausgang des Deutsch-Seins. Heidegger, Fichte, Hölderlin und Holger Meins sprechen aus den sechs Damen, die in Vaterlandsverzückung die schizophrene Sehnsucht nach Identität und Überlegenheit hervorwürgen. Als Bräute der Nation erregen sie sich an den Steigerungen der „Wir“-Idee, die sich bis zum totalen „Ich“-Sein selbst verschlingt.

Durch die Zerlegung des Monologs Wolken.Heim. in die Rede von sechs Fliegerwitwen verankert Regisseur Jossi Wieler neue Spannungsmomente. Dünkel, Heuchel und die gegenseitige Anstachelung bis zum Verlust der Selbstwahrnehmung geben dem Redefluß Dramatik und absurde Menschlichkeit. Marion Breckwoldt, Marlen Diekhoff, Gundi Ellert, Ulrike Grote, Ilse Ritter und Anne Weber singen und deklamieren.

Wielers Stimmungspuzzle aus Verzeichnung, ideologischem Schluckauf, rethorischen Sprechautomaten, klärendem Irrsinn, grausiger Betretenheit und komischen Ausfällen ist trotz Längen treffsicher komponiert. Fraglicher bleibt schon das textliche Konstruktionsprinzip an sich. Die fußnotenlose Verknüpfung angeblich charakteristischer Deutschheit panscht ein wenig zu wild mit Gesinnungsfarben. Der Mythos, der dabei entsteht, ist in seiner Diffusion dem Kritisierten schon wieder sehr ähnlich. Ein zwiespältiges Gefühl bleibt hier allemal.