„Die hatten noch nicht einmal ein Foto von mir“

■ Ein Speditionsangestellter versteckt sich monatelang vor den Feldjägern / Am Ende eines langwierigen Verwirr- und Versteckspiels wird er ausgemustert

Als die Feldjäger zum ersten Mal an einem Sonntagmorgen im März vergangenen Jahres energisch an die Wohnungsür bummern, wird es Stefan Strauch flau im Magen. Doch der damals 22jährige hat einen festen Vorsatz gefaßt, und den will er auf gar keinen Fall brechen: niemals als Wehrpflichtiger eine Waffe in die Hand zu nehmen oder als Zivildienstleistender alten Menschen den Hintern zu wischen. So ignoriert er die beiden Herren in Zivil vor seiner Tür und widmet sich genüßlich dem Frühstücksei. Einige Tage später wird er erneut gestört: Immer wieder klingelt das Telefon – wenn er den Hörer abhebt, meldet sich niemand. Ein schlechter Scherz oder wieder Feldjäger, die überprüfen, ob er zu Hause ist? Stunden später wagt sich Stefan Strauch vorsichtig aus seiner im Erdgeschoß gelegenen Wohnung. Er hat Pech: Auf dem Hinterhof lungern zwei Männer herum. Zurück in die Wohnung kann er nicht, das wäre zu auffällig, und so wird er auch gleich angesprochen: „Wissen Sie, ob ein Herr Strauch hier wohnt?“ Äußerlich ganz cool, innerlich zitternd murmelt er: „Ja, natürlich“, und geht einfach weiter. Er muß sich nicht ausweisen, wird nicht verfolgt. „Da wurde mir klar, daß die beiden Feldjäger gar nicht genau wußten, wie sie mit mir umgehen sollen“, sagt er rückblickend.

Die erste Etappe eines monatenlangen Verwirr- und Versteckspiels, das Stefan Strauch und das Kreiswehrersatzamt bereits viele Nerven gekostet hat: Im März 1989 bekommt der damals noch im Allgäu lebende Realschüler seinen Musterungsbescheid. Stefan Strauch zieht nach Berlin, um der Wehrpflicht zu entgehen. Der Mauerfall macht ihm einen Strich durch die Rechnung – im August '91 ist es dann soweit: Er wird in einem lapidaren Formbrief gebeten, sich am 1. Oktober beim Jägerbataillon 581 um Punkt 18 Uhr in der damaligen Treptower Kaserne einzufinden. Der Speditionsangestellte erscheint nicht, sondern versucht auf juristischem Weg, sich der Wehrpflicht zu entziehen. Er hat Pech, Widerspruch und eine Klage gegen den Einberufungsbescheid werden abgelehnt. Nach dem ersten Feldjägerbesuch wird Stefan Strauch vorerst in Ruhe gelassen, das mulmige Gefühl bleibt: „Ich habe täglich damit gerechnet, daß sie mich holen kommen.“

Zwei Monate später ist die Militärpolizei energischer als beim ersten Mal. In dem Protokoll, das Stefan Strauch über jeden Feldjägerbesuch minutiös angelegt hat, heißt es: „Klopfen der Feldjäger an der Wohnungstür, gehe mit Polizeibegleitung aus der Wohnung, werde mitten auf der Straße mit Händen auf der Motorhaube durchsucht, komme ins Feldjäger- Depot nach Potsdam, muß Nacht in Arrestzelle verbringen, werde von Soldaten ,belehrt‘, soll mich am nächsten Morgen zum Dienst einfinden.“

Trotz der Schikanen der Feldjäger und der Nacht in der Zelle bleibt Stefan Strauch gelassen. Er geht seinem normalen Alltag nach, arbeitet weiterhin bei einer Speditionsfirma. Dort wissen mittlerweise die meisten Beschäftigten und auch sein Chef von Jägern und Gejagtem. Sie halten zu ihm, auch als im Juli zwei Feldjäger an die Firmenpforte klopfen. Schon beim Pförtner werden sie abgeschmettert, denn „der hat sich geweigert, meinen Namen ausrufen zu lassen“, erzählt Stefan Strauch. Das ist sein Glück, er wird gewarnt und kann durch eine Hintertür entwischen. „Da habe ich mich richtig verfolgt gefühlt und fand das ewige Versteckspiel langsam tierisch anstrengend“, beschreibt er seine damalige Gemütslage. Die Feldjäger stehen noch einige Stunden vor der Firma, „ziemlich dumm, denn die hatten ja noch nicht einmal ein Foto von mir“.

Am nächsten Morgen wieder die gleiche Prozedur vor seiner Wohnungstür. Diesmal droht Stefan Strauch durch die verschlossene Tür mit Selbstmord – die Feldjäger rufen daraufhin die Polizei. Schließlich willigt er ein, am gleichen Nachmittag mit einer Freundin in die Kaserne zu kommen, „aber nur unter der Bedingung, daß ich wieder gehen kann“. In der Kaserne muß er tatsächlich nicht bleiben, für Stefan Strauch völlkommen rätselhaft, denn „natürlich hätten sie mich dabehalten dürfen“. Im August das gleiche Spiel, jetzt spricht der Kompaniechef seines Jägerbataillons von „Mann zu Mann“ mit ihm. Bei weiterer Verweigerung werde er vorläufig festgenommen, wird ihm gedroht, er solle doch endlich Vernunft annehmen. Schließlich zeigt „Jäger Strauch teilweise Einsicht“, er bleibt, möchte aber einen Arzt aufsuchen. Nach einer weiteren Nacht in der Kaserne mit offener Zellentür wird er am nächsten Morgen in das Bundeswehrkrankenhaus in Mitte eingewiesen.

Nach zehn Tagen wird Stefan Strauch entlassen. Im ärztlichen Gutachten heißt es: „Der Patient hat eine sozial unreife depressive Primärpersönlichkeit mit mangelnder Anpassungsfähigkeit (...) der Patient wäre damit nicht verwendungsfähig.“ Ende September, ein Jahr nachdem er sich zum ersten Mal beim Jägerbataillon 581 einfinden sollte, wird er vom Brigadearzt ausgemustert. Das Versteckspielen hat sich für den „Fahnenflüchtigen“ gelohnt – wenigstens finanziell: Nach der Ausmusterung hat Stefan Strauch 1.382,82 Mark Entlassungsgeld ausgehändigt bekommen. Bei der Bundeswehr werden eben auch Ausgemusterte akkurat und korrekt behandelt. Julia Naumann