Darf linke Politik ihre Vision aufgeben?

■ betr.: „Das Volk, das belogen wer den will“ von P. Schneider, taz vom 15.10.93

[...] Eine Arbeitszeitverkürzung unter der Bedingung eines vollen Lohnausgleichs beleidigt nur dann den „einfachsten Kinderverstand“, wenn man implizit von der Voraussetzung ausgeht, daß sich die Lohnquote, als Ausdruck eines ges. Machtverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital, nicht verändern dürfte. Warum das jedoch so sein muß, verschweigt uns Herr Schneider.

Natürlich muß man sich darüber im klaren sein, daß unter den jetzigen Bedingungen, da die Ware Arbeitskraft im Wortsinne auf der Straße liegt und ihr Preis verfällt, nicht das durchgesetzt werden kann, was die Arbeitnehmerverbände in den letzten 40 Jahren durchzusetzen versäumt haben oder es vielleicht auch gar nicht wollten. Denn ebenso wie ein Blick auf die Entwicklung der Lohnquote in der Nachkriegszeit zeigt, daß diese sich kaum verändert hat, zeigt ein Blick z.B. ins Mitbestimmungsgesetz (vgl. Paragraph 27 II i.V.m. Paragraph 29 II MitbestG), wie wenig Mitbestimmung dort eigentlich fixiert ist.

Aber darf linke Politik – vorausgesetzt, Herr Schneider verstand seinen Beitrag überhaupt als Beitrag zu einer solchen – deswegen ihre Vision aufgeben? Meines Erachtens darf sie es schon allein deswegen nicht, weil die Kapitalseite, wie bereits ersichtlich wird, ihre keinesfalls aufgegeben hat. Oder was denkt Herr Schneider wohl, was sich z.B. hinter dem schlichten Begriff „Lohnflexibilisierung“ verbirgt. Bestimmt nicht das Bestreben der Arbeitgeberseite zu übertariflichen Lohnvereinbarungen.

Nein, die Kapitalseite wird die Schwäche der Lohnabhängigen im nationalen wie im internationalen Rahmen rücksichtslos zu ihrem Zweck auszunutzen versuchen. Und daß dieser Zweck nur Mehrwertakkumulation heißen kann, dürfte wohl nur denen verborgen geblieben sein, die an das von Arbeitgeber- wie Gewerkschaftsseite verbreitete Märchen vom „Sozialpakt“, oder wie man das dümmliche „Wir sitzen alle in einem Boot“-Gerede auch immer nennen mag, jemals geglaubt haben.

Linke Politik kann dementsprechend nicht darin bestehen, vordergründige – wenn auch berechtigte – Kritik an den Gewerkschaften zu üben, sondern das Ziel muß sein, den arbeitenden wie den arbeitslosen Arbeitnehmern wie auch den Gewerkschaftsfunktionären den Funktionszusammenhang unserer kapitalistischen Gesellschaft – und zwar über das verschleiernde Niveau eines schulischen Gemeinschaftskundeunterrichts hinaus – zu erklären. Nur so kann sich zwischen Arbeitnehmern eine Solidarität herausbilden, und zwar eine Solidarität, die sich nicht darauf beschränkt, das Wenige, das man ihnen zugesteht, solidarisch zu verteilen, sondern eine Solidarität, die es ihnen erlaubt, die Verteilung grundsätzlich anders vorzunehmen.

Die Ähnlichkeit der Terminologie und des Gedankenganges mit bereits Gesagtem bzw. Gedachtem ist nicht rein zufällig. Dieter Marschang, Hofsgrund