Das Mainzer Modell

Universitätskliniken sammeln Daten über Neugeborene / Ein bundesweites Register ist in Planung  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Über 800.000 Menschen werden jedes Jahr in der Bundesrepublik geboren. Kaum auf der Welt, müssen rund 4.000 Babys auch schon Modell stehen – und zwar für eine statistische „Erfassung angeborener Fehlbildungen“, die Bundesgesundheitsministerium und Bundesärztekammer zum „Modellprojekt“ erklärt haben. Automatisch dabei sind sämtliche Neugeborenen, die in den drei Mainzer Universitätskinderkliniken entbunden werden. Die Teilnahme ist unfreiwillig. Denn ob sie überhaupt mitmachen wollen, danach fragen die am Projekt beteiligten Fachleute weder die Mütter noch die Väter.

Die Fachleute – das sind „in Neonatologie (Neugeborenenheilkunde) und klinischer Genetik speziell ausgebildete Kinderärzte“. Sie erfassen jeden Mainzer Säugling EDV-gerecht in einem bundesweit einmaligen Register. Gespeichert wird, ob und welche der sogenannten Fehlbildungen die Neugeborenen aufweisen. Was den Mainzer Uni-KinderärztInnen als Fehlbildung gilt, haben sie unter Anleitung von Professor Jürgen Spranger und Dr. Annette Queißer-Luft definiert. Sie unterscheiden zwei Gruppen „angeborener Fehlbildungen“: die großen, etwa ein angeborener Herzfehler, Klumpfuß, offener Rücken oder Down-Syndrom; und die kleinen, beispielsweise Leberflecken, abstehende Ohren, zusammengewachsene Augenbrauen oder eine Kerbe auf der Nasenspitze. Im 14seitigen Erhebungsbogen stehen über 100 große und kleine „Fehlbildungen“, jeder ist eine sechsstellige, EDV-angepaßte Ziffernkombination zugeordnet. Denn die, wie Annette Queißer-Luft sich ausdrückt, „bei der Inspektion des Kindes“ festgestellten „Fehlbildungs-Daten“ werden anschließend per Computer verknüpft – und zwar mit Daten aus Erhebungsbögen, die Auskunft geben über zahlreiche persönliche Eigenschaften und Verhaltensweisen der Eltern.

Gespeichert werden Geburtsdatum von Vater und Mutter, ihre Nationalität, Rasse, Beruf und ihre chronischen Erkrankungen. Registriert wird, ob die Mutter alleinerziehend ist, welche Konrolluntersuchungen sie sich während der Schwangerschaft unterzogen, welche Medikamente sie genommen hat. Erfaßt werden zudem sämtliche, wie es im Erhebungsbogen heißt, Lebendgeburten, Totgeburten, Fehlgeburten und Abtreibungen. Ob die Mütter und Väter rauchen, Alkohol trinken und Drogen konsumieren, wird ebenfalls aufgenommen und gespeichert.

Die Daten werden seit November 1989 gesammelt und vom Mainzer Uni-Institut für Medizinische Statistik und Dokumentation gespeichert und ausgewertet – stillschweigend, ohne Information der Betroffenen und der Öffentlichkeit.

Als einen entscheidenden Anstoß zur Errichtung des Registers referiert Spranger eine persönliche Erfahrung: „Ich erinnere mich an Umweltminister Töpfer, der im Jahr 1987 hier in Mainz Antwort geben sollte, ob durch Tschernobyl eine Häufung von Down-Syndrom aufgetreten sei. Und es war für mich wie für ihn peinlich zu sitzen und zu sagen, wir haben keine Zahlen. Und wir müssen ja davon ausgehen, daß so etwas wieder passiert.“ Mit Hilfe der Mainzer Datensammlung, so Spranger, lasse sich feststellen, ob „Umweltereignisse wie Tschernobyl sich in der Entwicklung von Ungeborenen niederschlagen“. Steigen die „angeborenen Fehlbildungen“ an, stecken dahinter möglicherweise veränderte Umweltbedingungen. Nur: Welche Gifte und Schadstoffe tagtäglich auf Eltern und Ungeborene einwirken, wird beim Mainzer Modell nicht erhoben.

Die Risikofaktoren, die die Mainzer MedizinerInnen abgleichen lassen, stecken denn auch nicht in der Umwelt. Vielmehr sind es Mütter und Väter, die bei der statistischen Auswertung als potentielle Gefahr für den eigenen Nachwuchs genau unter die Lupe genommen werden. „Beim ersten Kind“, schildert die Projektleiterin Queißer-Luft erste Ergebnisse, „ist das Risiko einer Fehlgeburt niedriger als beim vierten oder fünften Kind“. Oder: „Neugeborene, deren Eltern große Fehlbildungen hatten, wiesen vermehrt kleine Fehlbildungen auf.“

Welchen Sinn hat das Wissen über erhöhte individuelle Risiken – ein Wissen, das sich auf Häufigkeit und Korrelationen gründet? Werden Angehörige von Personengruppen, die per Fehlbildungsregister enttarnt worden sind, sich künftig dafür rechtfertigen müssen, ein Kind gezeugt zu haben, das den in Mainz definierten Normwerten nicht entspricht?

Solche Befürchtungen sind für Spranger „ein treffliches Beispiel autistischen, das heißt der Realität entrückten Denkens“. Vielmehr gehe es ihm, so Spranger, darum, „Behinderungen von Menschen, die doch bei uns benachteiligt sind, zu verhindern, indem wir die Ursachen ausräumen“. Dafür engagiert sich Spranger schon lange: 1979 eröffnete er in Mainz ein internationales Symposion zur Klinischen Genetik in der Pädiatrie unter anderem mit dem Satz: „Für die Gesellschaft sind gesunde Kinder um so wichtiger, je weniger Kinder sie sich leistet.“

Was Behinderte und ihre Interessengruppen von der Erfassung „angeborener Fehlbildungen“ halten, danach sind sie weder von Spranger noch von verantwortlichen PolitikerInnen gefragt worden. Das „Modellprojekt“ lief schon dreieinhalb Jahre, als die ebenfalls in Mainz ansässige Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) „Hilfe für Behinderte“ erstmals von der Datenerfassung erfuhr. Bei der Durchsicht des Erhebungsbogens fühlte sich Anna Schädler, Geschäftsführerin der LAG, an die Nazizeit erinnert. Das Reichsministerium des Innern hatte im August 1939 per „streng vertraulichem Runderlaß“ eine „Meldepflicht über mißgestaltete usw. Neugeborene“ eingeführt. Mit Meldebögen wurden anschließend behinderte Kinder erfaßt – die sogenannte „Kinder- Euthanasie“ wurde so bürokratisch vorbereitet.

Daß deutsche PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen heute wieder ähnliche Ziele verfolgen könnten, glaubt Anna Schädler zwar nicht. Aber warum in dem Mainzer Erhebungsbogen beispielsweise nach „Rasse“ und „Nationalität“ der Eltern gefragt wird, ist ihr nicht einsichtig. Deshalb bemüht sich die LAG um ein klärendes Gespräch mit Spranger und VertreterInnen des rheinland- pfälzischen Gesundheitsministeriums.

Derweil hat der zuständige Minister Ulrich Galle Mitte August im Landtag verkündet, er werde sich in der Konferenz der Gesundheitsminister „für die bundesdeutsche Einführung dieses Fehlbildungsregisters einsetzen“ – ganz so, wie es Spranger und die Bundesärztekammer wünschen, die jährlich mindestens 40.000 Neugeborene im gesamten Bundesgebiet erfassen wollen.

Den Worten folgten einen Monat später Taten. Bei der nichtöffentlichen Tagung der Arbeitsgemeinschaft der leitenden Medizinalbeamten der Länder regte Galles Gesandter an, das „bewährte Projekt“, das inzwischen auch in Magdeburg kopiert wird, auf weitere Bundesländer auszuweiten und Geld dafür bereitzustellen. Die Begründung war der Medizinalbeamtenrunde allerdings zu dürftig. Sie beauftragte deshalb ihren Ausschuß für Prävention und Sozialmedizin, erst einmal einen Bericht über die Erfahrungen mit dem Mainzer Modell zu erstellen. Dieser Bericht soll dann als Entscheidungsgrundlage dienen für die nächste Sitzung der Medizinalbeamten, die im Frühjahr 1994 stattfindet.

Noch immer nicht für nötig halten es die Fachleute offenbar, die betroffenen „Laien“ zu informieren und zu fragen, was sie eigentlich von der Erfassung der Daten halten. Dabei sind es diese Laien, die Eltern und Kinder, die ihre Daten spenden sollen. Verweigern sie die Datenspende, können weitere Register nicht gerechtfertigt werden.