Alte Debatte, neue Ängste

Im sechsten Teil der taz-Serie zur Geschichte in Osteuropa geht es um die endlose Diskussion über die deutsch-tschechische Vergangenheit  ■ Von Sabine Herre

Als im Februar 1992 Václav Havel und Helmut Kohl den deutsch- tschechoslowakischen „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ unterzeichneten, da wollten sie mit ihrer Unterschrift auch einen dicken Schlußstrich unter die Vergangenheit beider Nationen setzen. Monatelang hatten nicht nur die Politiker beider Seiten, sondern vor allem auch tschechische Journalisten über Krieg und Vertreibung, die Gültigkeit des Münchner Abkommens von 1938, über Entschädigungs- und Rückkehrforderungen diskutiert. Jetzt, so lautete der einhellige Wunsch der Verhandlungspartner, sollten sich beide Staaten ihrer gemeinsamen Zukunft zuwenden.

Eineinhalb Jahre später hat sich diese Hoffnung für die Tschechische Republik als Illusion erwiesen. Die deutsch-tschechische Vergangenheit bestimmt die Gegenwart mehr als je zuvor. Denn zumindest die Sudetendeutsche Landsmannschaft war keineswegs gewillt, einen Schlußstrich zu ziehen. Bei ihrem alljährlichen Pfingsttreffen griffen nicht nur die führenden Vertriebenen-Funktionäre, sondern auch bayrische Politiker in die vollen: Sollten die Tschechen den sudetendeutschen Entschädigungsforderungen nicht entgegenkommen, sei die von Prag gewünschte „Rückkehr nach Europa“ – die Eingliederung in die EG – wohl kaum möglich.

Wenn die Tschechen nun erwartet hatten, daß Ministerpräsident Václav Klaus diesen Erpressungsversuch entschieden zurückweisen würde, so sahen sie sich – zumindest zunächst – enttäuscht. Selbst für Insider der Prager Politszene ist bis heute nicht klar, warum der sonst so konsequente Premier den sudetendeutschen Funktionären einen unerwarteten Erfolg bescherte: Nachdem Prag direkte Verhandlungen mit der Landsmannschaft bisher stets abgelehnt und als „gleichwertigen“ Gesprächspartner allein Bonn akzeptiert hatte, bot Klaus nun die Bildung einer sudetendeutsch-tschechischen Verhandlungskommission an.

Angesichts des landesweiten Aufschreis sah sich der Ministerpräsident jedoch schon bald zum Rückzug gezwungen. In einem Brief an Ministerpräsident Stoiber wandte er sich nun vor allem gegen die bayrische Drohung, den Bau der für Tschechien überaus bedeutsamen Ölpipeline von Ingolstadt nach Nordböhmen nicht zu genehmigen. Doch obwohl er zugleich erklärte, daß er keine „Verhandlungen“, sondern nur einen „Dialog“ mit den Sudetendeutschen führen wolle und daß sich an diesem Dialog auch keine Regierungsdelegation, sondern eine eigens gebildete Gruppe der vier Koalitionspartner beteiligen solle, ist die Diskussion über die „sudetendeutsche Frage“ in den vergangenen Monaten zum wichtigsten Thema der tschechischen Presse geworden.

Fortschritte sind dabei jedoch fast keine zu verzeichnen. Als Ende der 70er Jahre Historiker und Politologen der ČSSR-Dissidenz mit der „Aufarbeitung“ der tschechischen Nachkriegsjahre begannen und das Thema „Abschub“ – damals waren rund drei Millionen Sudetendeutsche vertrieben worden – enttabuisierten, war es ihnen in erster Linie darum gegangen, die Verantwortung der tschechischen Bevölkerung an dem gegenüber den Sudetendeutschen begangenen Unrecht deutlich zu machen. In diese Tradition hatte sich auch Staatspräsident Havel gestellt, als er kurz nach seiner Wahl im Dezember 89 bei seinem ersten Staatsbesuch in der Bundesrepublik die Vertreibung „bedauerte“.

In unzähligen Leserbriefen an tschechische Zeitungen wird immer wieder deutlich, daß die ältere und mittlere Generation zwar einerseits das den Deutschen zugefügte Leid bedauern, es jedoch zugleich mit dem Hinweis auf die vergangenen Jahre der deutschen Okkupation rechtfertigen. Bei Meinungsumfragen vertraten 49 Prozent die Ansicht, daß die Vertreibung „ganz richtig“ war. Nur unter den jüngeren Tschechen ist dieser Prozentsatz niedriger, hier war auch die Bereitschaft, mit den Sudetendeutschen zu verhandeln, größer.

Die ständige Diskussion der sudetendeutschen Frage hat zudem neue Ängste geschürt: Während sich die Diskussion vor der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags in erster Linie auf die Forderung nach Rückgabe des enteigneten deutschen Besitzes konzentrierte, ist nun die Meinung zu hören, daß die Sudetendeutschen nach einer eventuellen Rückkehr erneut Autonomieforderungen erheben könnten. Der Vorstoß der Christdemokratischen Partei, den Sudetendeutschen, die keine Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten tragen und zudem eine tschechische Sprachprüfung bestehen, die Staatsbürgerschaft der Tschechischen Republik zu erteilen, stieß dann auch auf heftige Proteste.

Die Diskussionen der letzten Monate machten aber auch deutlich, daß die Tschechische Republik noch keine einheitliche Linie für ihre Deutschlandpolitik gefunden hat. Zu deutsch-tschechischen Fragen hatten der Außenminister, der stellvertretende Außenminister, der Präsident und der Ministerpräsident jeweils unterschiedliche Ansichten. Der Regierungspartei Bürgerlich-Demokratische Allianz (ODA) gelang es, die antisudetendeutsche Stimmung auszunutzen und den Prozentsatz der ODA-Wähler um einige Punkte zu steigern. Einer der Vordenker der Partei ging sogar so weit, sudetendeutschen Kreisen eine Beteiligung an der Auflösung der Tschechoslowakei vorzuwerfen. Verhandlungen über einen möglichen „Ausweg“ aus dem Konglomerat der gegenseitigen Forderungen werden so inzwischen unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit geführt. Präsident Havel fährt für einen Nachmittag zu einem Treffen mit dem Bundeskanzler nach Speyer, eine Woche danach schlägt Prag ein gänzlich neues Modell für die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus vor: Die Tschechische Republik streckt die notwendigen Gelder vor, erwartet von Bonn jedoch die baldige Rückzahlung.

Die erneuten Diskussionen über die sudetendeutsche Frage hängen ohne Zweifel auch mit der Auflösung der Tschechoslowakei zum Jahresende 1992 zusammen. Seitdem sucht die „kleine tschechische Nation“ ihren Platz in Europa. Vorrangige Bedeutung hat dabei das Verhältnis zum größten und wichtigsten Nachbarn Deutschland. Immer wieder ist die Ansicht zu hören, daß von der Entwicklung des achtzig Millionen Einwohner zählenden Staates auch die Zukunft der zehn Millionen Tschechen abhängt. Nervös verfolgt die Öffentlichkeit Zu- und Abnahme des Engagements des deutschen Kapitals, nervös reagiert sie aber auch auf rassistische Anschläge in der Bundesrepublik.

Dabei war es der Philosoph Václav Belohradský, der seine Befürchtungen am schärfsten formulierte. Die sudetendeutschen Forderungen seien für ihn nur ein weiterer Beweis für den deutschen Revanchismus, der sich zum erstenmal während des Historikerstreits gezeigt hätte. Seit der Wiedervereinigung würden die Anzeichen, daß Deutschland sich erneut aus der „westlichen Welt“ löst und eine mitteleuropäische Machtpolitik verfolgt, immer deutlicher. Die weitverbreitete tschechische Angst, den Deutschen unterlegen zu sein, schlägt bei Belohradský dann jedoch ins Gegenteil um: Das demokratische Deutschland könne von den Tschechen gerettet werden.