: Ende des Dreiparteiensystems in Kanada
■ Parlamentswahlen nach neun Jahren konservativer Regierung / Der Unterschied zum letzten US-Wahlkampf: die Sezessionisten aus Quebec
Kanada ist in den Augen vieler Europäer und der meisten US- Amerikaner ein Land, in dem relativ wenige Menschen relativ wohlhabend und friedlich zwischen relativ großen Wäldern leben. Klischees dieser Art führen in der Regel zu groben Verzerrungen der Realität und im Fall Kanadas zu einem fahrlässigen Desinteresse an Land und Leuten. So sollte man wenigstens sein Augenmerk auf den Norden Amerikas richten, wenn dort, wie am Sonntag, ein neues Parlament und damit eine neue Regierung gewählt wird: Nach neun Jahren konservativer Regierung steht in Kanada nicht nur ein politischer Machtwechsel, sondern auch das Ende des traditionellen Dreiparteiensystems an.
Politisch machte man in Ottawa zuletzt im Juni dieses Jahres in der ausländischen Presse Schlagzeilen, als mit Kim Campbell erstmals in der Geschichte des Landes eine Frau an die Spitze der kanadischen Regierung kam. Doch für die Demoskopen war die Niederlage der kanadischen „Progressive Conservative Party“ unter Campbell bereits vor Schließung der Wahllokale beschlossene Sache.
Auf den ersten Blick zeichnen sich vor allem Parallelen zum großen Nachbarn USA ab. Wie im Wahlkampf zwischen George Bush und Bill Clinton ging es auch in Kanada vor allem um zwei Themen: Jobs und die Bekämpfung des Haushaltsdefizits. Auch wenn im Ausland immer noch das Image eines krisenfesten Landes vorherrschen mag: das Land steckt in einer Wirtschaftsrezession; die Arbeitslosenrate ist inzwischen auf 11,3 Prozent gestiegen (und damit um rund 4 Prozent höher als in den USA); das Haushaltsloch betrug im letzten Jahr 25 Milliarden US-Dollar.
Wie im US-Wahlkampf wurde damit gerechnet, daß die größte Oppositionspartei, die „Liberal Party“ mit ihrem Spitzenkandidaten Jean Chrétien, die Wahl mit einem programmatischen Spagat à la Bill Clinton gewinnt: Chrétien versprach einerseits, mit staatlichen Investitionen Arbeitsplätze zu schaffen und die Konjunktur zu beleben, andererseits, mit Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen die Staatsverschuldung zu verlangsamen. Vor allem aber – und darin liegt ein großer Unterschied zu den USA – hat er den Wählern versprochen, das ausgefeilte staatliche Sozialsystem, an das die Kanadier ähnlich den Deutschen gewöhnt sind, nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern nach dem erhofften Konjunkturaufschwung auch auszubauen.
Die Liberalen, denen Erdrutschsiege in den Provinzen Ontario, Manitoba, Saskatchewan und Zugewinne in den atlantischen Provinzen vorausgesagt wurden, dürften auch von den neuen Akteuren auf dem politischen Parkett profitieren, die mit populistischen Parolen erfolgreich am Wählerpotential der Konservativen knabbern – allen voran Preston Manning, Vorsitzender und Spitzenkandidat der „Reform Party“. Mannings Partei hoffte darauf, nicht nur die „New Democrats“, traditionell die drittstärkste Partei im kanadischen Parlament mit einer sozialdemokratischen Ausrichtung, sondern auch Campbells „Progressive Conservative Party“ zu überholen.
Vor allem in der US-Presse wird der 51jährige aus der Westprovinz Alberta gerne als kanadische Version von Ross Perot etikettiert. Was Manning mit Perot eint, ist die populistische Rhetorik gegen etablierte Parteien im allgemeinen und gegen die Bundesregierung in Ottawa im besonderen, gegen Staatsausgaben, Regierungsprogramme und professionelle Politiker.
Manning fordert mehr „direkte Demokratie“ durch Referenden und Abgeordnete, die sich bei Parlamentsabstimmungen verbindlich an Vorgaben aus ihren Wahlkreisen halten müssen. Wie Perot präsentiert er sich als Antipolitiker und wie Perot greift er das auf, was man im Soziologenjargon „Politikverdrossenheit“ nennt, obwohl es eigentlich „Politikerverdrossenheit“ heißen müßte.
Dazu hat zuletzt vor allem die „Progressive Conservative Party“ unter Campbell-Vorgänger Brian Mulroney beigetragen. Letzterer schaffte es, gegen Ende seiner Amtszeit im Frühjahr 1993 neue Kellerregionen auf dem Politbarometer der Demoskopen auszuloten. Nicht nur Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit legten ihm die Kanadier zur Last, sondern auch eine ungeniert praktizierte Vetternwirtschaft. Noch kurz vor seiner Amtsübergabe an Kim Campbell versorgte Mulroney Verwandte und Bekannte mit Jobs in der bundesstaatlichen Administration.
Doch im Gegensatz zum texanischen Milliardär, der bei den letzten US-amerikanischen Wahlen immerhin fast 20 Prozent erzielte, basiert Mannings Popularität nicht nur auf einem „Wir gegen das Establishment“-Gefühl, sondern auch auf wachsenden ethnischen Ressentiments: zum einen gegen die frankophone Minderheit in der Provinz Quebec, zum anderen gegen Immigranten und das in der Verfassung festgeschriebene Selbstverständnis Kanadas als multikulturelle Gesellschaft.
Kompliziert – und sehr kanadisch – wird die Situation durch die Rolle des „Bloc Québécois“, jener Partei in der frankophonen Provinz Quebec, die ihre Abgeordneten vor allem zu einem Zweck in das Parlament in Ottawa entsenden will: der Sezession vom kanadischen Bundesstaat.
Sollte Jean Chrétien – Spitzenkandidat der Liberalen, gebürtiger Quebecer und überzeugter Föderalist – zwar einen Sieg, aber keine regierungsfähige Mehrheit errungen haben, so wird er sich nun mit Rechenaufgaben den Kopf zerbrechen. Womöglich muß er sich der Unterstützung von Preston Mannings „Reform Party“ versichern. Gleichzeitig wäre er, so der kanadische Politologe Kenneth McRoberts, der erste Premierminister aus Quebec, dessen Föderalismus in seiner eigenen Heimatprovinz mehrheitlich abgelehnt wird und der damit von der Loyalität der Abgeordneten der anglophonen Provinzen abhängig wäre.
McRoberts gehört zu den wenigen, die einem politischen Erdbeben Positives abgewinnen können. Es sei besser, so seine Argumentation, wenn die extremen Parteien ihre Ansichten über das zukünftige nationale und ethnische Selbstverständnis Kanadas im Rahmen des Parlaments austragen. „Jetzt, da die drei etablierten Parteien ihr Monopol auf diese politischen Themen verloren haben, fällt es Kanada vielleicht leichter, die Antworten auf diese Fragen zu finden.“ Andrea Böhm
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