Trauerstreit von oben entschieden

Im Streit um die Zentrale Gedenkstätte in Berlin setzte Bundeskanzler Helmut Kohl seine Vorstellungen durch. Historiker Kosselleck: Der Opferbegriff der Bundesrepublik ist verlogen  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Der große Gedenkstreit um die „Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland“ ist entschieden: Helmut Kohl hat seine Anordnung – Gedenkstätte, Kollwitzfigur und Inschrift – auf der ganzen Linie durchgesetzt. Der monatelange Protest gegen Dekret, künstlerische Gestaltung und Gedenktext war vergeblich.

Acht Tonnen wiegt die im Original 38 Zentimeter kleine Intimplastik von Käthe Kollwitz „Mutter mit totem Sohn“, hochvergrößert auf ein eineinhalb Meter steht sie ab 14. November als Monument in der Neuen Wache in Berlin Mitte. „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ ist in den Sockel eingemeißelt – eine Inschrift, die wie die Figur selbst eine heftige Debatte über zeitgemäßes Trauern auslöste.

Am Volkstrauertag, am 14. November, wird Sinnstifter Kohl zum Gedenken aller Toten schweigend einen Kranz niederlegen, und in seiner Begleitung wird sich Ignatz Bubis befinden.

Denn weil die Bundesregierung sich in der vergangenen Woche überraschend bereit erklärt hatte, eine Zusatztafel mit der Präzisierung der Opfergruppen in dem Innenraum anzubringen, kann nun auch der Zentralrat der Juden mit der Gedenkstätte leben. Der Text dieser Zusatztafel, Auszüge aus der berühmten Rede von Richard von Weizsäcker aus dem Jahre 1985, wird heute bekanntgegeben. Strittig ist nur noch, ob die Aufzählung der Opfergruppen der nationalsozialistischen Diktatur ergänzt wird durch einen Hinweis auf die Verfolgten des Kommunismus.

Doch die Kritiker verstummen nicht, obwohl nun alles entschieden ist. Am vergangenen Sonnabend trafen sich die alten Kämpen gegen die Neue Wache noch einmal in der Humboldt-Universität, um ihre Positionen für die Geschichtsbücher festzuzurren, ihre Abschlußbilanz vorzutragen.

Der Bielefelder Historiker Reinhart Kosselleck wiederholte, was er monatelang immer wieder und immer wieder vergeblich geschrieben, gesprochen, gefordert hat. Bundeskanzler Kohl, so klagt Kosselleck, monopolisiere per Dekret die fünfzig Jahre währende Auseinandersetzung über ein Totengedenken an die ermordeten, vergasten, gefallenen und vermißten Menschen in Nationalsozialismus und Krieg; wohl, weil er „zufällig die Kollwitz-Figur auf dem Schreibtisch stehen hat“, mutmaßte der Historiker. Mit der Anordnung, die Kollwitz-Skulptur „aufzublasen“, und der undifferenzierten Inschrift setze der Kanzler fort, was er in Bitburg begonnen habe: einen gleichmacherischen bundesrepublikanischen „Allgemeintotenkult“.

In einer deutschen Gedenkstätte müßte seiner Ansicht nach der „Riß durch unsere Erinnerung“ an die SS-Täter und die ermordeten Völker als Widerspruch thematisiert werden. Die Entscheidung für die Käthe-Kollwitz-Figur schütte diesen „Riß“ zu. Denn sie stehe in der Tradition der Maria mit dem toten Christus im Schoß, sei daher eine hoffnungspendende Pieta, das christliche Symbol für Erlösung. Käthe Kollwitz hat diese Figur 1937 aus Trauer über ihren Sohn Peter geschaffen, der mit ihrem Einverständis als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg zog.

Wenige Tage später fiel er. Die Figur zeige daher ein Symbol für das „aktive und freiwillige Opfer ... ist daher ein Kriegerdenkmal“. Käthe Kollwitz' Thema der überlebenden Mutter „klammere visuell all die verschwundenen Frauen und Juden“ aus, all die, „deren Asche verschwunden ist“. Und die Inschrift enthalte einen „verlogenen Opferbegriff“, weil diejenigen die „umgebracht“ wurden, in einem Atemzug mit denen genannt werden, „die diese umgebracht haben“. Reinhart Kosselleck erneuerte seine Forderung, einen Wettbewerb für die Neugestaltung der Gedenkstätte auszuschreiben. Er plädierte für ein Denkmal, „das jede Inschrift erübrigt“.

Protest gegen die Pieta meldete auch erneut die Berliner Denkmalpflegerin Gaby Dolff an. Das Symbol der trauernden Mutter sei seit der Antike die Komplementärfigur zu Feldherrenstatuen und bedeute nicht die Ablehnung des Krieges. Ein deutsches Denkmal müßte heute das Thema Schuld und Verantwortung symbolisieren. Mit der Pieta könne er leben, meinte hingegen der Theologe und Publizist Richard Schroeder. Er setzt sich allerdings ein für eine differenzierendere Inschrift, „den im Kriege Gefallenen und Opfern der Gewalt“. Eine originelle Sicht über die Umgestaltung der Neuen Wache äußerte der Ex-DDR-Journalist Friedrich Dieckmann. Die Bezeichnung „Zentrale Gedenkstätte“ habe eine fatale Ähnlichkeit mit der DDR-Terminologie, sei aber eine „Verbesserung“. Noch besser wäre es allerdings, wenn die Inschrift „Den Opfern der Rechtlosigkeit“ heißen würde.

Gegner der offiziellen Einweihungsfeier am Volkstrauertag planen am 14. November einen alternativen Gedenkgang zu den Leidensstationen der Opfer des Nationalsozialismus.