Warten auf Aristide

Der internationale Druck auf Haitis Armeechef Cédras nimmt zu. Anfang der Woche will die UNO über eine Verschärfung der Sanktionen beraten. Schon jetzt ist wegen des Öl-Embargos das Benzin knapp. Dennoch ist immer noch offen, ob Präsident Aristide am 30. Oktober aus dem Exil zurückkehrt. Damit gewinnt ein schwer berechenbarer Faktor an Bedeutung: die Reaktion der Bevölkerung.

Wenn Aristide nicht kommt, dann beginnt hier die große Reise.“ Gino Serrat hat schon für den Ernstfall vorgesorgt und sich einen Platz für die Überfahrt nach Miami sichern lassen. Er sitzt auf einem Fischerboot und beobachtet die Arbeiten. Am Strand von LéogÛne werden drei Schiffe gebaut. Eines ist schon fast fertig, es gleicht einer kleinen Arche Noah aus der Bibel, bei der noch ein paar Bretter am Bug und die Deckplanken fehlen, bevor es gewassert werden kann. Das letzte sieht noch aus wie das Gerippe eines riesigen Fisches, der hier gestrandet ist. Wie Gräten stehen die Verstrebungen in die Luft.

Überall sind Männer damit beschäftigt, Planken anzunageln. Die Zeit drängt. Denn wenn Präsident Aristide nicht in einer Woche auf seinen Posten zurückgekehrt ist, stehen 2.000 Flüchtlinge bereit zur gefährlichen Flucht über den Ozean, in dem es von Haifischen nur so wimmelt.

Auf einem kleinen, 15 Meter langen Boot sollen 700 Menschen die Fahrt nach Florida antreten. Die Schiffe werden derart überladen, daß viele schon untergehen, bevor sie in den Bereich der US- Küstenwache kommen. Die Glücklichen werden von den Patrouillebooten der Küstenwache abgefangen und nach Haiti zurückgeschafft. Die ganz Glücklichen gelangen unentdeckt bis an die Küste von Florida, wo sie um Asyl nachsuchen können und zunächst in Lagern interniert werden.

Für 100 bis 200 Dollar Fahrgeld müssen die verzweifelten Passagiere fünf, sechs oder sieben Tage so eng zusammengepfercht verbringen, daß sie lernen müssen, im Stehen zu schlafen. Wer nicht das Glück hat, einen Platz nahe der Reling zu finden, der muß ständig hohle Kürbisschalen mit Urin, Scheiße oder Erbrochenem weitergeben.

Gino hat diese Fahrt schon einmal unternommen und ist immerhin bis Guantanamo gekommen, zum US-amerikanischen Marinestützpunkt auf dem kubanischen Festland. Der 12jährige Juan Carlos, dessen gesamte Familie schon geflohen ist, wartet nur noch auf den nächsten Transport.

Keiner weiß, wie viele Haitianer seit dem Putsch vor zwei Jahren die Flucht dem trostlosen Elend im eigenen Land vorgezogen haben. Über gescheiterte Fluchtversuche gibt es keine Statistik. Schon mehrere Tage ist von LéogÛne, 30 km westlich von Port-au-Prince, kein Schiff mit Boat people mehr abgegangen. Alles wartet auf Aristide. Doch der Strom von Flüchtlingen aus der Stadt in die Provinz hat in den letzten Tagen zugenommen. Denn auf dem Land sind Transport und Versorgung weniger problematisch.

Der Moloch Port-au-Prince scheint permanent vor dem Kollaps zu stehen. Esso und Shell geben auf Anweisung ihrer Stammhäuser überhaupt kein Benzin mehr aus. Vor den Texaco-Tankstellen bilden sich schon am Abend Schlangen für den nächsten Tag. Seit auch Texaco am Freitag die Lieferung einstellte, sind nun die letzten Tankstellen geschlossen. Der Gestank von Müll und Abwässern, der diese Stadt wie ein Markenzeichen von anderen Metropolen der Karibik unterscheidet, ist noch penetranter geworden. Die Abfälle vor den Marktständen der Straßenhändler türmen sich stellenweise hüfthoch, die Straßen in den Vororten sind zu schlammigen Kloaken geworden.

Obwohl die Armee diesmal auf sichtbare Präsenz in den Straßen verzichtet, will niemand über Politik reden. „Wir müssen sehen, wie wir über die Runden kommen“, erklärt ein Chauffeur, der Holzkohle geladen hat. Die Angst ist allgegenwärtig, denn die Militärs haben die Einschüchterung paramilitärischen Schlägerbanden überlassen. Da ist die „Front d'Accion pour le Progrès de Haiti (FRAPH), die „Aktionsfront für den Fortschritt Haitis“ des Emmanuelle Constant, eine Organisation der gefürchteten Tonton Macoute, die jetzt, eleganter, Attachés genannt werden. Die Tonton Macoute waren ursprünglich eine Art Privatmiliz des François Duvaliers und wurden nach dem Sturz des Diktatorensprößlings Jean-Claude Duvalier von der Armee als landesweites Agentennetz am Leben erhalten.

Die FRAPH setzte am 7. Oktober einen Generalstreik gegen die Rückkehr Aristides mit Gewalt durch und verhinderte am 11. Oktober die Landung der „Harlan County“. Dreihundert bewaffnete „Gorillas“ schlugen damals die Vorhut der US-amerikanischen Beobachtertruppen in die Flucht. Eine heroische Tat, die zur Gründung einer weiteren Organisation, des „Revolutionsrates 11. Oktober“ Anlaß gab.

Allein am zweiten Oktoberwochenende wurden 17 Tote gezählt, aus den Armenvierteln werden Nacht für Nacht Sympathisanten Aristides verschleppt. Die Morde an Aristide-Sponsor Izmery im September und Justizminister Malary am 13. Oktober waren nur Höhepunkte des Terrors.

Während diese Organisationen den Terror säen, geben sich die Putschführer moderat. General Raoul Cédras hat zuletzt erklärt, der Rückkehr Aristides gemäß dem Fahrplan des Abkommens von Governors Island vom 3. Juli stünde im Prinzip nichts im Wege. Allerdings haben die Armeeführer ihren Teil noch nicht erfüllt, nämlich den für 15. Oktober vorgesehenen Rücktritt. Bevor er sein Amt niederlege, erklärte Cédras, müsse erst ein Amnestiegesetz verabschiedet werden, das den Putschisten absolute Straffreiheit für die während der vergangenen zwei Jahre verübten Verbrechen garantiere. Verfassungsjuristen streiten darüber, ob der Präsident die Amnestie per Dekret erlassen kann oder ob das Parlament darüber abstimmen muß. Die Vorlage der Exekutive ist längst in der Nationalversammlung.

Allerdings hat die den Militärs hörige Fraktion bisher jede Diskussion verhindert, weil Premierminister Robert Malval das Amnestiegesetz an ein anderes geknüpft hat, das die ebenfalls im Abkommen vereinbarte Trennung der Polizei von der Armee ermöglicht. Dieser Punkt, der die Voraussetzung für jede ernsthafte Demokratisierung in Haiti ist, scheint den Machthabern besonders im Magen zu liegen, was auch der heimtückische Mord an Justizminister Guy Malary, dem die Polizei unterstellt werden sollte, bestätigt.

Die Putschisten haben geschickt gespielt. Denn die Aufhebung des Embargos der Vereinten Nationen am 27. August war an die Ernennung eines neuen Premierministers geknüpft, nicht an den Rücktritt der hohen Militärs. Sie hatten also genug Zeit, ihre im August aufgetauten Konten in den USA zu leeren und die Treibstoffreserven aufzufüllen. Das neue, nach der Ermordung Malarys verhängte Embargo trifft sie daher nicht mehr so hart. Trotzdem deutet einiges darauf hin, daß die Militärs letzten Endes gegenüber dem weltweiten Druck zurückstecken. Armeechef Raoul Cédras und Polizeichef Michel François sollen ihre Familien bereits in die benachbarte Dominikanische Republik geschafft haben.

Auch die Macoutes oder Attachés in der Provinz bereiten sich auf den Ernstfall vor. Denn wenn sie von ihren Chefs im Stich gelassen werden, dann schützt sie keine Amnestie vor den Repressalien der jahrelang geschundenen Nachbarn. Schon nach dem Sturz Jean Claude Duvaliers im Februar 1986 und nach dem gescheiterten Putschversuch im Januar 1991 endeten viele der Schergen mit einem brennenden Reifen um den Hals. Aus Jacmel, LéogÛne, St. Louis du Nord und anderen Städten im Landesinneren und an der Küste melden die Volksorganisationen, daß die Paramilitärs Waffen an ihre Sympathisanten verteilt und Mordpläne gegen die Anhänger Aristides geschmiedet hätten.

Die Signale aus den USA sind zumindest zweideutig. Auf der einen Seite kreuzen zwei Fregatten, ein Zerstörer und drei Kreuzer der US-Navy, verstärkt durch ein argentinisches Kriegsschiff, vor den Küsten, um jedes Schiff abzufangen, das haitianische Häfen anlaufen will. Andererseits wurde in Washington ein vor zwei Jahren von der CIA verbreitetes Psychoprofil Aristides neuerlich in Umlauf gebracht, das dem Präsidenten eine instabile Persönlichkeit bescheinigt und psychopathische Anfälle nachsagt.

Eine von einer lokalen Zeitung mit Außenstelle in New York lancierte Nachricht, wonach Botschafter William Swiny hinter dem Rücken von UN-Unterhändler Dante Caputo eine Verschiebung des Rückkehrtermins auf den 15. Dezember ausgehandelt habe, wurde vom Botschafter im Gespräch mit dieser Zeitung ausdrücklich dementiert: „Ich gehe so weit, daß ich nicht einmal laut darüber nachdenken will, was passiert, wenn der 30. Oktober nicht klappt.“

Obwohl auch Premierminister Malval am Freitag erneut erklärt hat, Aristide wolle am ursprünglichen Fahrplan festhalten, wird die Erfüllung dieses Plans von Tag zu Tag unwahrscheinlicher. Damit gewinnt ein schwer berechenbarer Faktor an Bedeutung, nämlich die Reaktion der Bevölkerung, deren an Aristide geknüpfte Erwartungen seit zwei Jahren frustriert werden. Es ist nicht auszuschließen, daß ein neuerlicher lavalas, eine Sturzflut von Protesten, losbricht, wie sie seinerzeit den Sturz Duvaliers beschleunigt und später die Wahl Aristides ermöglicht hat. Ralf Leonhard, Port-au-Prince