Der Angriff des Lochs auf die übrige Zeit

■ Warum immer mehr Bremer glauben, daß immer mehr Bremer immer länger weg sind / Eine apokalyptische Weissagung in eigener Sache

Es muß gesagt werden, daß das ordnungsgemäße Wirken der Kulturseite ernstlich in Gefahr ist. Warum? Ach, fragen Sie doch nicht so scheinheilig. Ich wette, selbst Sie überlegen bereits blindlings herum, ob Sie nicht auch einmal so ein Festival machen könnten. Es machen ja neuerdings alle Bremer ein eigenes Festival, das ist schon das mindeste. Und weit schlimmer noch: Sie tun es alle zugleich. Infolgedessen ist das Gedrängel unvorstellbar. Allein in diesem einzigen Herbst durchlebte unsere einzige kleine Stadt ein Musikfest, ein Bachfest, ein Michael-Moore-Festival, ein Shakespeare- Festival, ein Schumann-Festival, die Trompetentage, die Herbstakademie, den Klavierwettbewerb, das Puppentheaterfestival, verschiedene Filmwochen, das fulminante Festival „Europa im Dialog“, die Projektwoche „Frauen und Aufklärung“, das „Festival der kleinen Preise“ bei Möbel Meyerhoff undleast but beileibe not last die „Woche der indigenen Völker“, welche verzweifelt versuchte, in der ausgemergelten Öffentlichkeit noch Begeisterung für die Probleme malaiischer Bergvölker und alkoholkranker Komantschen zu schüren. Ich bitte Sie: Das ist doch kein Leben mehr.

Das Publikum hat es ja noch leicht und geht einfach nicht mehr hin. Woher sollte wohl auch der Bremer die Zeit für das zwanzigste Festival nehmen, da er genug zu tun hat, das einundzwanzigste vorzubereiten. Wir aber zahlen die Zeche, denn nun wollen vollends all die zahllosen Festivalveranstalter wenigstens in die Zeitung, ehe sie gar keiner mehr bemerkt. Tagtäglich rufen sie hier an und stören den Redaktionsfrieden: Der eine fordert gebieterisch einen Berichterstatter für den Vortrag über den Europagedanken in der baltischen Seefahrerlyrik, der andere will uns zu einer nicht minder gerechten Sache sehnlichst ein Interview gewähren, und wir unsererseits erleben, was die Gier nach den letzten verfügbaren Publikumsresten aus den Menschen machen kann. Der eine fleht uns inständig an, der andere droht mit geeigneten Schritten, der dritte jammert haltlos dahin, und man hat Mühe, sie alle der Reihe nach wieder in den Hörer zurückzustopfen.

All dieses spielt sich in einem einzigen Herbst ab, und während des ganzen restlichen Jahres spielt sich gar nichts ab. Da sind ja alle verreist, nicht wahr? Das ist die Wahrheit, das ist der Urgrund des Übels. Kein Mensch wagt mehr eine Veranstaltung in Jahreszeiten, wo man besorgen müßte, es möchten Hunderte, ja Tausende, wenn nicht Millionen von Bremern außer Landes sein und die Einschaltquote verderben. Deshalb und nur deshalb trampeln sich alle Veranstalter in dem schwindend knappen Raum zwischen Sommerloch und Winterloch auf den Füßen herum; deshalb und nur deshalb müssen nun alle ein komplettes Festival in die Welt hinausbrüllen, sonst hat es in dem Getümmel gar keinen Zweck mehr.

Früher gab es das Sommerloch; es dauerte vom ersten Tag der großen Ferien bis zum letzten und spendete uns viel Heiterkeit und Erbauung. Heute fängt es Ende Mai an und zieht sich bis in die Tiefen des September hinein, und dann muß man auf Zack sein, denn bald bricht auch schon das Herbstferienloch herein, gefolgt vom Winterloch und sodann dem Osterloch, welches sich demnächst mit dem Sommerloch zu einer einzigen Katastrophe vereinigen wird.

Soweit hat es kommen müssen mit dem närrischen Herumgeschwafel von der „Freizeitgesellschaft“, daß nunmehr offenbar alle Welt glaubt, es sei eh alle Welt ex und weg. Selbst der dazumal harmlose Umstand, daß Feiertage auch mal günstig vors Wochenend fallen, führt heute sofort zu einem zweiwöchigen Veranstaltungsstop, und es geht erst weiter, wenn auch der letzte Ausflügler wieder daheim ist.

Dabei ist das alles gar nicht wahr. Der Durchschnittsbremer ist ja doch fast das ganze Jahr über in ausreichender Anzahl hierzulande vorrätig; ja er langweilt sich in den Weiten der Löcher aufs Qualvollste, da man ihn so starrsinnig für abwesend hält. Es genügt offenbar, daß ein paar Hundertschaften des Volkes sich immer mal wieder in den Urlaub begeben, und schon sieht keiner mehr all die andern, wie sie redlich durch die Stadt wuseln. Niemand erfreut sie und niemand zerstreut sie als das treue Feuilleton allein: Wir denken uns wochenlang in der Not jeden Tag drei köstliche Themen aus, wir plaudern und scherzen der Leere zum Trotz, und es ist auch schon vorgekommen, daß wir eine Geschichte frei erfinden mußten. Nein, wir halten stand.

Bloß wenn es immer noch ärger wird, wer weiß, auf welche Ideen selbst die Tapfersten kommen. Sehen Sie, wenn wir einmal so sehr erlahmen, daß wir nur noch den Quargel würdigen, der in die Zeitung will, ist es für jede Umkehr zu spät. Dann schmeißen wir der Welt vier Wochen lang täglich zwanzig Kulturseiten vor die Füße, um dann für den Rest des Jahres auf den Kapverdischen Inseln herumzulungern, allwo wenigstens einmal im Monat die Bongogruppe zusammentritt. Manfred Dworschak