Der Rausschmiß aus Sömmerda

In der thüringischen Kleinstadt sollen Flüchtlinge gegen ihren Willen in ein anderes Heim verfrachtet werden  ■ Aus Sömmerda Bascha Mika

Nein,“ sagt der Herr Minister und fahndet nach einem Fussel auf seinem Anzug, „an der grundsätzlichen Entscheidung wird nichts geändert. Über Sömmerda läßt sich nicht reden!“ Er sagt es ganz ruhig, hebt weder den Blick noch die Stimme. Die zwei Frauen und drei Männer, die ihm an diesem 21. Oktober in einem Büro des Thüringer Landtages gegenübersitzen, starren ihn an. Mustern das rosig-runde Gesicht, das aus einem weißen Hemdkragen guckt, den Wohlstandsbauch unter der gedeckten Krawatte, die schreibtischweichen Hände. Haben sie erwartet, daß Dr. Frank-Michael Pietzsch (CDU), Minister für Soziales und Gesundheit im Land Thüringen, weiß, was es bedeutet, Flüchtling zu sein? Daß er ahnt, was Krieg, Terror und Vertreibung mit Menschen machen? Daß er genügend Phantasie besitzt, hinter den bürokratischen Begriffen seiner Behörde traumatische Schicksale wahrzunehmen?

Sömmerda, Mittwoch, 6. Oktober. Ein Bus fährt durch die thüringische Kleinstadt, hält vor einem schwarzweißen Klinkerbau. Drei Mitarbeiterinnen des Landratsamts steigen aus. Warten. Auf 18 BosnierInnen, die von Sömmerda in eine Kaserne nach Altenburg verfrachtet werden sollen. Niemand erscheint. Die Frauen gehen ins Haus, halten den Flüchtlingen den Bescheid unter die Nase. Sie sollen unterschreiben und mitkommen. Die BosnierInnen schütteln den Kopf. Sie können das deutsche Papier gar nicht lesen, doch sie wissen, was los ist. Das Amt hat sie einige Tage zuvor informiert.

Ihr Haus, in dem bis vor kurzem noch 50 Menschen wohnten, soll geschlossen werden. Es ist nicht mehr ausgelastet, denn in Thüringen mangelt es neuerdings an Asylbewerbern. Die restriktive Flüchtlings- und Asylpolitik der Bundesregierung, die zunehmend abgeschotteten Grenzen lassen die Schutzsuchenden draußen vor der Tür. Und drinnen stehen die Unterkünfte leer. Ein Viertel der thüringischen Heime sind unterbelegt. Sie arbeiten, so das Sozialministerium, „unter der wirtschaftlichen Schmerzgrenze“. Pünktlich zum Auftakt der „Woche der ausländischen Mitbürger“ im September kündigte Minister Pietzsch daher an, er werde rund 5.000 Heimplätze abbauen und 31 der 74 Flüchtlingsheime schließen. Die verbleibenden Bewohner sollen in großen Heimen und ehemaligen NVA-Kasernen zusammengelegt werden. Soweit der Plan des Ministers. Doch er wurde ohne die Flüchtlinge in Sömmerda gemacht.

Die Vertreterinnen der Behörde stehen im Hausflur des Heimes, sie drängen, drohen. Einen Dolmetscher haben sie nicht mitgebracht, die BosnierInnen verstehen sie kaum. Kurze Zeit später fährt der Bus wieder weg. Leer. Die Flüchtlinge weigern sich, nach Altenburg umzuziehen.

„Alles ist schlimm da“, meint ein junger Mann aus dem bosnischen Gradačac, an dessen dürrem Körper sich die Kleider kaum festhalten können, „man darf nicht allein kochen, ab zehn Uhr ist alles abgeschlossen, duschen kann man nur einmal in der Woche.“ Der Bosnier ist aus der Armee desertiert, war in einem Lager interniert, ist geflüchtet und hat sich mit Frau und Kind nach Deutschland durchgeschlagen. Seit letztem Jahr lebt er hier, das zweite Kind ist in Sömmerda geboren. „Als unser Heim noch voll belegt war, hab ich mich hier gefühlt wie zu Hause.“

Ein dürftiges Ersatzzuhause, diese Zimmer mit den schäbigen Tapeten und verwohnten Möbeln, diese engen Flure voller Wäscheständer und Kinderspielzeug, diese Küchen voller Kochdünste und armseligem Geschirr. Doch eben ein Stück Zuhause. Das wollen die Flüchtlinge nicht aufgeben. Nicht für eine Kaserne. Auch wenn sie – wie die Kaserne in Altenburg – mit fünf Millionen Mark renoviert und neu eingerichtet worden ist. Sie wollen kein Lager mit Wächtern vor den Toren und Stacheldraht drumherum. Sie wollen kein Massenquartier, wo man mit Hunderten zugleich abgespeist wird, mit fünfzig auf einem Flur lebt, mit fünfzehn anderen im Duschraum steht.

Landrat Dohndorf tobt. Dann reagiert er prompt und scharf. Er entzieht den Renitenten Sozialhilfe, Verpflegung und medizinische Betreuung. Die BosnierInnen drohen, auf die Straße betteln zu gehen. Plötzlich hat die 1100 Jahre alte Kleinstadt ein „Flüchtlingsproblem“. Und einen Skandal. Wohl den ersten seit der Reformationszeit. Damals ließ der Rat der Stadt, so die Chronik, alle Tore der Stadtmauer zunageln. Tod, Teufel und diese Maßnahme sollten die BürgerInnen von Sömmerda hindern, den Gottesdienst in der angrenzenden lutherischen Gemeinde zu besuchen. Jetzt hätte die Stadtverwaltung wohl gern die alten, ramponierten Tore so weit wie möglich aufgerissen, um die Flüchtlinge ohne Aufsehen loszuwerden.

In der örtlichen Presse philosophiert Landrat Dohndorf über die Gebote der Gastfreundschaft. „Von einem Gast, der Gastrecht genießt, muß erwartet werden, daß er Regelungen des Gastgebers akzeptiert, wie er untergebracht und versorgt wird, wenn dies menschenwürdig geschieht – und dies ist der Fall.“

Dohndorf läßt den Bus ein zweites Mal vorfahren. Wieder steigt niemand ein. Doch nach einer Woche Boykott gehen den BosnierInnen Geld und Lebensmittel aus. „Da stehen sie plötzlich bei mir im Hausflur und sagen: Helfen Sie uns!“ Annemarie Tebaartz ist Ausländerbeauftragte ihres Kirchenkreises, ihre Gemeinde liegt in der Nähe des Heims. Die BosnierInnen kennen die Pfarrerin. Sie hat sie schon früher besucht, die Kinder ins Pfarrhaus eingeladen.

„Leben“, sagt Pfarrerin Tebaartz, „ist doch nicht nur Wartestand.“ Sie versucht zwischen Landrat und Flüchtlingen zu vermitteln. Die BosnierInnen werden als Kriegsflüchtlinge in der Bundesrepublik nur geduldet. Für sie ist nicht das Sozialministerium, sondern zunächst die Kommune verantwortlich, also Landrat Dohndorf. „Beide Gespräche mit dem Landrat haben zu nichts geführt“, erzählt Tebaartz. Dabei seien die Flüchtlinge bereit gewesen, in ein anderes Heim zu ziehen – nur nicht in die Kaserne nach Altenburg. Zu Dohndorfs Verdruß will auch die Pfarrerin nicht einsehen, daß Menschen verschoben werden wie Vieh.

Teebaartz sucht woanders nach Hilfe – bei der Bevölkerung. Und die Sömmerdaer helfen tatsächlich. Schnell und selbstverständlich. Wie zur Reformationszeit haben die BürgerInnen der Stadt andere Vorstellungen als die Obrigkeit. Dem Spendenaufruf der Pfarrerin folgen Lebensmittel und Geld. 1.500 Mark kommen in wenigen Tagen zusammen. Eine kleine Initiativgruppe wird gegründet. Hauptsächlich Jugendliche. Einer von ihnen ist Sven Seiffert: „Diese Menschen haben durch den Krieg alles verloren, und ich habe mir vorgestellt, was mit mir wäre, wenn es hier losging.“

Zwar gibt es in Sömmerda wie überall auch die, die gegen die Flüchtlinge giften: „Hierher kommen und auch noch Ansprüche stellen!“ Und es gibt auch anonyme Anrufe bei der Pfarrerin: „Die sollen zurück nach Jugoslawien und dem Krieg da ein Ende machen!“ Doch aus der Bevölkerung kommen solche Reaktionen eher vereinzelt.

Dafür treibt es der Landrat besonders kraß. Als wäre es seine persönliche Fehde. Als die Presse lästig wird, verpaßt Dohndorf seinen MitarbeiterInnen einen Maulkorb. Er verhängt über das „Flüchtlingsproblem“ eine Nachrichtensperre und äußert sich selbst Tage später mit einer persönlichen Erklärung in der Thüringer Allgemeinen. Darin erwähnt er die vor dem Flüchtlingsheim stehenden Autos und schreibt weiter: „Ich muß aber Verständnis haben [für die Bevölkerung], wenn gefragt wird, wie diese Autos finanziert und welche Erlöse aus dem Verkauf erzielt werden [...] Geldmangel scheint [bei den Jugoslawen] jedenfalls nicht zu herrschen, denn – so ein Beobachter – es wird mit großen Scheinen aus der Tasche bezahlt.“

Nachdem Dohndorf sich dergestalt als biedermännischer Brandstifter betätigt hat, argumentiert er gegenüber den Flüchtlingen und ihren UnterstützerInnen am liebsten mit der Sicherheit der Menschen. Diese sei bei einem Angriff auf das Heim nicht gegeben. Das Haus habe keinen Wachdienst mehr, und ein Gutachten des thüringischen Innenministeriums bescheinige ihm gravierende Sicherheitsmängel. Die will Dohndorf allerdings weder benennen noch beheben. Also schieben die Jugendlichen Nachtwache im Flüchtlingsheim. „Wir haben alles mögliche befürchtet“, berichtet Andreas Schlegel, Jugendwart des Kirchenkreises, „eventuell auch Angriffe von Rechten. Aber vor denen hatten wir weniger Angst als vor einem Räumkommando der Stadt.“

Denn auch die rechten Jugendlichen in Sömmerda sind ein wenig anders als anderswo. Zwar gibt es Gangs in der Stadt, die sich als Linke und Rechte bezeichnen, aber die Fronten sind nicht verhärtet, finden die Kids. Man kennt sich, ist zusammen zur Schule gegangen, hat sogar kürzlich, als eine Allee in der Stadt abgeholzt werden sollte, gemeinsam demonstriert. Selbst die Flüchtlinge haben mit den Rechten ungewöhnliche Erfahrungen gemacht. Nachdem eine Gruppe das Heim vor zehn Monaten mit Molotowcocktails angegriffen – aber keinen Schaden angerichtet – hatte, erschien einige Tage später deren Anführer im Haus. Er wollte mal gucken und reden. „Es hat ihm gut bei uns gefallen“, erzählt der Bosnier aus Gradačac, „er hat uns dann öfter besucht und den Kindern Computerspiele mitgebracht. Inzwischen liebt er jugoslawische Spezialitäten und hat uns versprochen, daß so etwas wie dieser Überfall nie wieder passiert.“

Da stehen sie nun, die Flüchtlinge: von der Bevölkerung unterstützt, von den Rechten in Ruhe gelassen. Doch bleiben dürfen sie nicht. Zwei Wochen dauert der Clinch, dann machen Landratsamt und Landesregierung einen Kompromißvorschlag: Die Flüchtlinge sollen in ein Heim in Zella-Mehlis. Sie fahren hin, schauen es sich an, finden es nicht akzeptabel. Sie wenden sich an Sozialminister Pietzsch. Zwei bosnische Flüchtlinge, Pfarrerin Tebaartz und ein Dolmetscher machen sich auf zum Landtag nach Erfurt.

Der Minister hat alle Fusseln von seinem Anzug entfernt. „Ich kann Sie nicht mit Polizeigewalt räumen lassen“, erklärt er jetzt gemütlich, „das ist Sache des Landrats. Aber ich werde voll hinter seiner Entscheidung stehen.“ Zella- Mehlis sei sein letztes Angebot. „Wir müssen langsam zu Potte kommen. Diese extreme Bevorzugung von denen aus Sömmerda geht doch nicht!“ Die Flüchtlinge sehen keine Chance mehr. Übers Wochenende sind sie noch in Sömmerda geblieben. Gestern ist der Bus zum dritten Mal vorgefahren.

Leergeräumte Zimmer: Zuerst mußten die Asylbewerber das Heim verlassen, jetzt auch die bosnischen Flüchtlinge. Foto: Christian Riethmüller