: Abschied von der Avantgarde
Berliner JazzFest: Die Kritiker Stanley Crouch und Bill Milkowski über Entwicklungen des Jazz ■ Von Christian Broecking
Während das älteste und auflagenstärkste amerikanische Jazzmagazin „Downbeat“ die Übertragung eines heftigen verbalen Schaukampfes zwischen zwei Rollenmodellen des Jazz – Wynton Marsalis und Lester Bowie – fortsetzt, lädt man mit geradezu schweizerischer Gelassenheit zum 30.JazzFest vom 28. bis 31.Oktober nach Berlin. Ziel scheint es zu sein, in bewährter Manier die gegenwärtigen Trends der internationalen Jazzszenen abzufeiern. Orgel, Sopransaxophon, HipHop, Big Bands und vermeintliche Aktualitäten bestimmen den Fahrplan der nächsten Tage.
Was in Übersee zum wortgewaltigen Machtkampf zwischen Avantgarde und Tradition gerät, reicht den Jazzfans dieser Nation kaum mal mehr zur Reise in die Hauptstadt. Das JazzFest Berlin muß schon seit längerem damit leben, im Mief des Beliebigen und Verwechselbaren zu duften. Die Zeiten änderten sich, nur das JazzFest nicht, rufen die deutschen Kritiker alljährlich gen Osten. Alternativen sind rar: Montreal, Willisau, Vancouver oder Paris Banlieue hießen die Ziele kunstbeflissener Jazzpilger in diesem Jahr. Im Ursprungsland des Jazz hingegen gibt man sich eingerichtet, in den Clubs hat man sich auf Gefälliges verständigt, in den Konzerthallen versichert man sich der Tradition via Abonnement, und im Netzwerk des Independent-Jazz rumort es mit europäischem Feedback.
Jetzt blasen (nicht nur in den USA) die Jazz-Theoretiker zum Jahrzehnt der Entscheidung – Rebellen allüberall, das Ende der Phase friedlicher Koexistenz verschiedenster Szenen scheint eingeläutet. Den einen ist Lester Bowie der Konservativist par excellence, den anderen Wynton Marsalis. Der Jazz verlor sich nach dem Tod von John Coltrane im Taumel einer selbsternannten Avantgarde, sagen die einen, während die Gegenseite Experimentierfreudigkeit und Risikobereitschaft als die wahren Werte des Jazz hochhält.
Kritiker beider Lager bescheinigen dem Berliner JazzFest-Programm immerhin Vielschichtigkeit und ein Maß an Repräsentativität, das amerikanische Festivals dieser Tage nicht aufbieten. Am kommenden verlängerten JazzFest-Wochenende läßt sich überprüfen, worum der große Streit gehen soll. Allein am Freitag, dem 29.Oktober wird der überseeische Lagerkampf auf Berliner Bühnen facettenreich dokumentiert werden: die Carnegie Hall Jazz Band unter Leitung von Jon Faddis mit einem Benny- Goodman-Programm in der Philharmonie, Lester Bowies Brass Fantasy im Jazzclub Quasimodo, das Butch Morris Trio beim begleitenden Total Music Meeting im Kulturzentrum Podewil und das JazzHipHop-Spektakel des New Yorker Giant-Step-Managements im Tränenpalast.
Im Gespräch mit der taz erläutern Stanley Crouch, Wynton Marsalis-Mentor und derzeitiger künstlerischer Jazzberater am New Yorker Lincoln Center, und Bill Milkowski, Jazzkritiker für „Downbeat“, „Jazztimes“ und „Pulse!“ ihre Sicht von Gegenwart und Zukunft des Jazz.
taz: Mr. Crouch, was denken Sie, wenn Sie heute an Jazz denken?
Crouch: Das ausnahmslos Bedeutendste im Neunziger-Jahre-Jazz ist, daß junge Musiker wieder lernen, in allen Stilen zu spielen, die die Jazzgeschichte hervorgebracht hat. Seit der Albert-Ayler- und Fusion-Generation sind sehr viele Informationen verschüttet worden und verlorengegangen. Deshalb wimmelte es in den letzten 25 Jahren nur so von Schmalspurspielern, die ohne jegliche Autorität, Sachverstand, Glaubwürdigkeit und Persönlichkeit musizieren. Die neue Musikergeneration hingegen steht zur Tradition eines King Oliver und Jelly Roll Morton, zu Count Basie und Duke Ellington, Charlie Parker und Dizzy Gillespie, Thelonious Monk, John Coltrane und Miles Davis, jedenfalls solange er noch Jazz spielte.
Sie meinen, Miles Davis war irgendwann kein Jazzmusiker mehr?
Miles Davis hat seit Ende der Sechziger den Jazz an den Popmarkt verraten. Er wurde zum Kollaborateur, zum Waldheim des Jazz – bis zum bitteren Ende. Und die wenigen Leute dieser Davis- Zeit, die heute eine Rolle spielen, Gary Bartz zum Beispiel, waren schon gute Musiker, als Davis sie mietete, sie haben sich bei ihm nicht weiterentwickelt. Was ich eigentlich damit sagen will: während der letzten Dekade haben sich junge Musiker von dem Diktat der Jazzpresse befreit. Die Jazzkritiker brauchen Jazzmusiker, die ihnen Stoff für Stories geben, und favorisieren solche, die mit Novitäten, Trends oder symbolischen Attacken gegen die Mittelklasse hausieren gehen. Die amerikanische Mittelschicht ist das Feindbild der meisten amerikanischen Jazzkritiker, die selbst Aussteiger dieser Gesellschaftsschicht sind. Sie benutzten Jazzmusiker als Waffen, um ihren eigenen sozialen Background anzugreifen. Es geht hierbei also nicht darum, ob ein Musiker überhaupt etwas von Musik versteht, sondern um seine Funktionalisierung für einen ganz anderen Zweck. Im Gegensatz zu dieser geheuchelten Rebellion steht der Begriff der Affirmation.
Aber Sie waren doch selbst einst vehementer Sprecher jener Avantgarde, gegen die Sie jetzt reden...
Das stimmt, und deshalb kann ich heute auch resümieren, daß die sogenannte Jazz-Avantgarde-Musik zum Großteil die Simplifizierung vereinzelter Jazzelemente und von Versatzstücken europäischer Avantgardemusik dieses Jahrhunderts war. Leute wie Lester Bowie sind allzulang damit durchgekommen, sich ihre Gesichter anzumalen, sich zu kostümieren, sich einen neuen Haarschnitt zuzulegen und von Afrika zu schwätzen. Mit Wynton Marsalis jedoch ist jene Autorität und Ästhetik, die der Avantgarde fehlte, in den Jazz zurückgekehrt. Es zeugt daher von immenser Dummheit und Ignoranz, die Marsalis- Generation als neokonservativ und traditionalistisch zu verteufeln.
Worum geht es denn bei dem Marsalis-Bowie-Medienspektakel?
Zum einen, gerade wie Downbeat es lanciert, ist das purer Hype – das Modell der CNN-Kriegsberichterstattung auf die Jazzpresse übertragen. Wir haben es hier aber auch mit einer bestimmten Art zu tun, wie Weiße mit Schwarzen umgehen. Ich spreche von Weißen, die den Neger primitiv und unkompliziert lieben, die von ihm unterhalten werden wollen. Ebensolche haben heute die gleichen Probleme mit Wynton Marsalis oder Jon Faddis wie einst mit Duke Ellington, der sich dieser rassistischen Spielart des Primitivismus auch nie beugte. Deshalb regen sie sich auch so darüber auf, wenn diese Musiker gut gekleidet auf der Konzertbühne erscheinen. Sie ziehen denen einen Lester Bowie vor, da er ihre Vorstellung vom primitiven Neger besser erfüllt. Der tragische Held des Art Ensemble of Chicago ist für mich der Perkussionist Don Moye (er spielt am 29.Oktober im Rahmen des Jazzfests im Quasimodo; d. Red.), der zu den versiertesten Schlagzeugern des Jazz zu zählen ist – aber was kann Lester Bowie schon?
Die gegenwärtige Phase des Jazz ähnelt jener vor 40 Jahren, als Miles Davis und Horace Silver gegen die Überzuckerung der sogenannten Cool School mit der Wiederentdeckung von Blues und Hard-Swing rebellierten. Die jetzige Rebellion wendet sich vornehmlich gegen Fusion, die Vulgarität der Pop-Musik und eine Avantgarde, die auf Exzentrismus und Ignoranz basierte. In 40 Jahren wird zum Beispiel der Pianist Marcus Roberts (er wird am 31.Oktober im Rahmen des JazzFests in der Berliner Philharmonie spielen; d. Red.) einem jungen Musiker zeigen können, wie man Jelly Roll Mortons oder Thelonious Monks Musik richtig spielt. Einmal ganz abgesehen davon, was sich in der Zwischenzeit alles entwickeln wird.
Wie denken Sie über JazzHipHop? Der Trompeter Donald Byrd (vom Bandprojekt Jazzmatazz; d. Red.) soll diese Strömung bereits mit der Bebop-Revolution verglichen haben.
Ich denke, daß es sich hierbei lediglich um einen modischen Trend handelt, wie es sie in der Geschichte des Jazz schon häufig gab. Sowas vergeht. Und Byrd kennt die Regeln: wenn man etwas Geld machen will, muß man wenigstens so tun, als geschehe etwas. Es ist nicht möglich, die Mittelmäßigkeit des populären Geschmacks zu brechen. Und nichts Bedeutendes dieser Tage wird je so populär werden können wie Madonna. Sie zielt auf jene Wirkung ab, die ein Elefant vor 100 Jahren hatte. Sie operiert mit dem Überraschungseffekt der Zirkuswelt, mit der Exotik des Banalen: sie ist der pornographische Elefant der Jetztzeit. Die JazzHipHopper wollen erfolgreich sein, und sie liegen im Trend. Aber es gibt in der Geschichte nichts Heroisches ohne Widerstand. Marcus Roberts und Danilo Perez wird man später zu den bedeutendsten Pianisten dieses Jahrzehnts zählen, aber große Meisterschaft war eben noch nie trendy.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen