„Ich liebe, ich liebe euch doch alle“

■ Die Karriere des gefürchteten Armeegenerals Erich Mielke endete auf schrecklich banale Weise / Der greise Mann, der über jeden alles wissen wollte

Was des Volkes Hände schaffen

Ist den Schutz der Partei wert,

Die Partei gab uns die Waffen –

Schild und Schwert

(Aus: „Lied der Tschekisten“)

Der Auftritt machte Geschichte. Am 13. November 1989, mitten in der Wende, sprach der Abgeordnete Erich Mielke vor der Volkskammer – seit 30 Jahren das erste und zugleich das letzte Mal. Er blamierte sich füchterlich. Mit lautem Lachen quittierten die Volkskammermitglieder die Ausführungen des einst so mächtigen Ministers für Staatssicherheit. Physisch wie psychisch angeschlagen, hatte Mielke reklamiert: „Wir haben, Genossen Abgeordnete, einen außerordentlich hohen Kontakt mit allen werktätigen Menschen.“ Zwischenrufe, die es früher in der Volkskammer nicht gegeben hatte, brachten den Greis vollends aus der Fassung. Hilflos stotterte er: „Ich liebe, ich liebe doch alle ... alle Menschen. Ich liebe doch ... Ich setze mich doch dafür ein ...“ Der Rede folgte kein Beifall, mit tiefrotem Kopf schwankte der Armeegeneral zur Regierungsbank.

Jeder Bürger, jede Bürgerin in der DDR galt dem Herrn über die Staatssicherheit als potentielles Sicherheitsrisiko. Mielke wollte über jeden alles wissen. Wie ernst er das meinte, ist beispielsweise in einem Schlußwort anläßlich einer Kollegiumssitzung des MfS vom 19. Februar 1982 überliefert: „Noch einmal wiederhole ich: Wir müssen alles erfahren! Es darf nichts an uns vorbeigehen. Und das machen manche Leiter noch nicht. Die merken das noch nicht einmal, Genossen, einige unter uns. Die begreifen das sogar noch nicht richtig. Das ist eben die Dialektik des Klassenkampfes und der Arbeit der Tschekisten.“ Die „Dialektik“ führte zu mehr als 180 Kilometer laufender Akten, die heute in den Archiven der Gauck-Behörde verwahrt werden.

Zentrale Aufgabe des MfS war, alle Bereiche des Lebens in der DDR, Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Kirche und Jugend lückenlos zu überwachen. Kritische Meinungen sollten erfahren, oppositionelle Bestrebungen erkannt und im Keim erstickt werden. Das MfS verstand sich als ausführendes Organ, als „Schild und Schwert“ der Sozialistischen Einheitspartei. Das tägliche Instrument der Tschekisten war die „Registrierung“, die „operative Bearbeitung“ und schließlich die „Zersetzung“ regimekritischer Bestrebungen. Der Apparat, der zum Ende der DDR über mehr als 85.000 hauptamtliche Mitarbeiter verfügte, bediente sich dabei eines riesigen Heeres überwiegend freiwilliger Helfer und Spitzel. Die Anzahl der „inoffiziellen Mitarbeiter“ wurde nach der Auflösung des MfS im Frühjahr des Jahres 1990 auf rund 130.000 geschätzt.

Seit 1957 stand Erich Mielke als Minister an der Spitze der Behörde, deren offizielle Geschichte am 8. Februar 1950 mit dem Beschluß der provisorischen Volkskammer in Ost-Berlin zur Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit begann. Mielke war von Anfang an dabei, stets war er Schlüsselfigur.

Im Alter von 18 Jahren war der am 28. Dezember 1907 geborene Berliner der Kommunistischen Partei beigetreten. Nach den Polizistenmorden, für die er gestern verurteilt wurde, flüchtete Mielke, der zuvor Speditionskaufmann gelernt hatte, 1931 in die Sowjetunion. Mit Staats- und Parteichef Erich Honecker war er ebenso privat wie dienstlich eng befreundet.

Juristisch wird Mielke wegen seiner Tätigkeit als Chef der Stasi nicht verfolgt. Außer den Polizistenmorden wird ihm die Versorgung des privilegierten SED-Altenheims Wandlitz und Anstiftung zur Fälschung bei den DDR-Kommunalwahlen 1989 vorgeworfen. Wie die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates soll Mielke auch wegen der Todesschüsse an der Mauer zur Verantwortung gezogen werden.

Last, but not least, wirft ihm die Berliner Justiz Freiheitsberaubung, Nötigung und Körperverletzung, begangen am KPD-Funktionär aus Westdeutschland, Kurt Müller, im März 1950 vor. Mielke, der als Staatssekretär des MfS den Kommunisten Müller in einer Vernehmung vorwarf, „Mitglied einer trotzkistischen Organisation“ zu sein, mußte sich 40 Jahre später, nach seiner Verhaftung im Dezember 1989, selber verhören lassen. Generalmajor Girke eröffnete dem Untersuchungshäftling Mielke im Januar 1990, es werde gegen ihn wegen Hochverrat ermittelt. Die aus der Vernehmungsakte protokollierte Reaktion Mielkes: „Was sie mir sagen, ist unfaßbar ... Ich war doch zuständig, Hochverrat zu untersuchen und zu bekämpfen.“ Wolfgang Gast