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Das Geisterhäuschen

■ Kleinerts "Verlorene Landschaft", eine deutsch-deutsche Familiensaga

Zwei Liebende in einer zerfallenen Villa, Bombenhagel draußen vor der Tür. Die Frau liegt aufgebahrt, als ginge es ans Ende, unter einem weißen Tuch. Der Mann trägt eine Schüssel mit Blut hinaus. Dann der erste Schrei. Voller Angst blicken die Eltern ins Leere. Es ist 1945.

Eine Lebenszeit später: Der West-Politiker Elias wohnt in einer Pyramide aus Glas. An seinem 47. Geburtstag erhält er einen anonymen Anruf. Seine Eltern seien gestorben, er werde das Haus erben, im Osten. Er fährt hin. Es ist 1992. Vor einem Kohlenberg hängt ein Plakat mit seinem Konterfei. „Der Mann für unsere Zukunft“ steht darunter. Elias wird zum Zeitreisenden in der ostdeutschen Kleinstadt im ehemaligen Sperrgebiet. Mit einem Schritt kann er 40 Jahre rückwärts springen und noch einmal erleben, wie er mit seinen Eltern, den „Staatsfeinden“, im Waldhaus lebt. Wie sie ihn abschotten wollen von der sozialistischen Staatsmaschinerie, ihn einsperren, vor den Behörden verleugnen. Sie spielen ihm Puppentheater vor. „Ich hole die Polzei“, kreischt die weibliche Puppe. „Was ist die Polizei?“ fragt Elias mit strengem Gesicht. Die Köpfe der Eltern tauchen aus der Tiefe der Puppenbühne auf und blicken sich ratlos an. „So etwas wie ein Förster“, sagt die Mutter schließlich, und Elias rennt hinaus.

Natürlich kann der Junge eines Tages entwischen. Er findet einen Freund, mit dem er sich ein Baumhaus baut und nachts die Ströme von Flüchtlingen beobachtet, die mit Fackeln durch den Wald zum Fluß laufen. Elias kommt in die Schule, der Vater für zehn Jahre ins Gefängnis. Als er wiederkommt, macht er in die Hosen. Elias raucht seine erste Zigarre im Bett und denkt an die Rollen mit Stacheldraht, die am Fluß lagern. Er legt die Zigarre ab und rennt los. Das Bett geht in Flammen auf, und Elias steht von nun an auf der anderen Seite des Flusses.

Andreas Kleinert und sein Kameramann Sebastian Richter bewegen sich sicher zwischen den Abgründen des Kitsches auf der Ebene der Poesie. Sie durchbrechen auch die Gegenwart des Ostreisenden hin zu einer schwindelerregenden Möglichkeit: die Eltern sind gar nicht tot.

Als Elias ins zerfallene Haus tritt, sind die Räume mit Moos bewachsen, Vögel schreien, und in der Küche sitzen die Eltern. „Man sagt guten Tag, wenn man in ein fremdes Haus kommt“, sagt die Mutter und salbt dem Vater den Rücken.

Elias erlebt die letzten Tage mit ihnen, läßt sich sein Politikergewäsch verbieten, tanzt mit ihnen, findet sie schließlich wirklich tot im Bett. Trauerarbeit. Folgerichtig in Schwarzweiß gedreht.

Die oft mystischen Bilder werden auch und vor allem möglich durch die Schauspielerei. Roland Schäfer als erwachsener Elias ist wortkarg, skeptisch und mürrisch. Wenn er nächtens durch eine ostdeutsche Gasse läuft und unversehens in ein Wohnzimmer mit zwei handarbeitenden Frauen gerät, braucht sich der Zuschauer nicht zu wundern. Es reicht, wenn Schäfer das tut. Er ist die Bodenverankerung in diesem magisch-realistischen Filmgedicht. Friederike Kammer und Sylvester Groth sind die Eltern in jungen Jahren. Zwei Liebende, verzweifelte Idealisten, die schließlich an ihrem Sohn scheitern (Elias als Kind: Leo Wittrien, als Jugendlicher: Frank Stieren). Im Alter erst schließen sie Frieden mit der Welt. Da werden sie von Christine Gloger und Christoph Engel gespielt: gütig und kompromißlos zugleich.

Kleinert erzählt eine Familiengeschichte, ostdeutsche Geschichte, ostwestdeutsche Geschichte am Einzelfall, am Ausnahmefall eines Politikers, der sich nach seiner Rückkehr ins Glashaus ein Video seiner Wahlrede ansieht und sich verzweifelt lachend auf den Boden wirft. Der Utopie seiner Eltern ebenso wie der DDR- Realität entflohen, hatte er nichts als Worte. Die hat er jetzt nicht mehr. Verlorene Landschaft.

ZDF, Defa und die von-Vietinghoff-Filmproduktion haben den Film gemeinsam produziert. In diesem Jahr erhielt er den Adolf- Grimme-Preis in Silber und den ersten Preis der Fachjury sowie den Publikumspreis in Schwerin. Petra Kohse

„Verlorene Landschaft“, Regie: Andreas Kleinert. Kamera: Sebastian Richter. Mit Roland Schäfer, Friederike Kammer, Christine Gloger, Sylvester Groth, Christoph Engel und anderen. BRD 1992, 106 Min.

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