Profis lassen die erste Kammer leer

Petersens Mondfahrt: „In the Line of Fire – Die zweite Chance“  ■ Von Karl Wegmann

Die Gerüchteküche brodelte. Kaum hatte Wolfgang Petersens „In the Line of Fire“ in Amerika die ersten Lorbeeren und die ersten Millionen eingeheimst, munkelte man schon, der Film sei gar nicht von ihm. Hauptdarsteller Clint Eastwood hätte vielmehr den in den Staaten fast völlig unbekannten deutschen Regisseur rekrutiert, um selbst ungeniert und gefahrlos in die Inszenierung eingreifen zu können. Der ganze Film also ein echter Eastwood. Die bösen Zungen hatten einen angenehmen Nebeneffekt: Es rannten noch mehr Menschen ins Kino. Schließlich waren die vier verdienten Oscars für Eastwoods „Erbarmungslos“ noch in aller Munde, der außerdem gerade die US-Video- Charts anführte.

Egal wer das dumme Gerücht nun gestreut hat, nötig hatte Petersen sie ganz sicher nicht, denn „In the Line of Fire“ ist ein perfekter Thriller mit einer eiskalt kalkulierten Dramaturgie, zwei trefflich agierenden Hauptdarstellern und auch einer Prise Selbstironie. Inzwischen hat der Film allein in den USA und in Kanada mehr als 101.000.000 Dollar eingespielt. Das macht Wolfgang Petersen („Clint hat sich niemals eingemischt und keine Starallüren an den Tag gelegt“) zum (kommerziell) erfolgreichsten deutschen Regisseur aller Zeiten.

Etwas Wahres ist allerdings doch an dem Klatsch. Clint Eastwood setzte sich wirklich dafür ein, daß Wolfgang Petersen den Platz auf dem Regiestuhl bekam. Er dachte sich nämlich, daß „jemand aus einem anderen Land einen objektiveren Blick auf die Dinge wirft, die hier in Amerika passieren“. Diese „Dinge“, um die es in der Geschichte geht, sind in der Tat uramerikanisch. Es handelt sich um Präsidentenmord und um den miesesten Job der Welt.

Die Amerikaner können auf eine lange Tradition von Attentaten und Attentatsversuchen auf ihre Präsidenten zurückblicken, sie glauben aber immer noch, ein Mittel dagegen zu haben: Den US Secret Service. Die Agenten dieses Geheimdienstes sind die einzigen Sicherheitsbeamten der Welt, die sich vertraglich verpflichten, sich vor ihren Schützling zu werfen, um eine Kugel, die auf ihn abgefeuert wird, mit ihrem eigenen Körper aufzuhalten. Diese spezielle Art des Personenschutzes machte auch Clint Eastwood neugierig, der gerade erst in „Erbarmungslos“ die Klischees des Genres vom schnellen Schuß und schnellen Tod, von der simplen Einteilung einer Welt in Schwarz und Weiß gesprengt hatte: „Ich wollte den Typ Mann verstehen, der für einen Menschen eine Kugel abzufangen hat, den er vielleicht noch nicht einmal kennt oder gut leiden kann. Das ist für mich ein interessanter Mann.“

In „In the Line of Fire – Die zweite Chance“ spielt Eastwood den alternden Secret-Service- Agenten Frank Horrigan, dem seine Aufgaben immer noch Lebensinhalt sind. Ein Privatleben hat er schon längst nicht mehr, er haust in einem lieblos eingerichteten Apartment, und seinen Lohn gibt er für melancholische Jazz- Platten aus.

Seit 30 Jahren hat Frank Horrigan ein Problem. Damals war er als junger Sicherheitsbeamter beim Kennedy-Attentat dabei. Seitdem plagt ihn die Gewissensfrage, ob er sich, wie es seine Pflicht verlangte, nach dem ersten Schuß noch rechtzeitig hätte schützend vor Kennedy werfen können. Die Erinnerung an jenen Tag in Dallas wird wieder lebendig, als sich ein potentieller Attentäter meldet, der sich „Booth“ (nach dem Mann, der Präsident Abraham Lincoln erschoß) nennt. Booth (John Malkovich) hat Horrigan als den einzigen noch im Dienst befindlichen Agenten, der seinerzeit den Kennedy- Mord hautnah miterlebt hat, identifiziert. Er kündigt an, den amtierenden Präsidenten zu erschießen und behauptet, Horrigan könne das genauso wenig verhindern wie damals in der Elm Street. Frank Horrigan nimmt die Herausforderung natürlich an.

Wolfgang Petersen läßt den Thriller wie einen „Dirty Harry“- Film beginnen: Eastwood, supercool, arbeitet mit einem jüngeren Kollegen undercover. Als sein Partner enttarnt wird, fordern die Gangster Horrigan-Eastwood auf, ihn zu erschießen. Der legt gleichgültig an und drückt ab. Klick! Die erste Kammer lassen Profis immer leer. Mit den nächsten Schüssen erledigt er die ganze Bande. Doch Frank Horrigan ist natürlich kein Harry Callahan. Dirty Harry war ein cooler, unabhängiger, ausgesprochen ichbezogener Einzelgänger, der „alles haßte – das Leben, den Tod, Ausländer, Neger, Schwule, Kellnerinnen, Verbrecher und sich selbst“, so ein Mitarbeiter des Inspektors in Don Siegels Film von 1971. Agent Horrigan dagegen ist eigentlich nur einsam, sein Beruf ist sein Leben, und das will er „anständig“ zu Ende bringen. Petersen spielt aber weiter mit dem Dirty-Harry-Mythos Eastwoods. Etwa wenn die junge Agentin Lilly Raines (Rene Russo) auftaucht und dem Veteranen zunächst nur Macho-Sprüche einfallen, oder wenn Horrigan unbedingt wieder zum Personenschutz eingeteilt werden will, aber erkennen muß, daß sein alter Körper den Strapazen einfach nicht mehr gewachsen ist. In diesen Szenen wird klar, daß die Zeiten des mythischen Koloß Dirty Harry endgültig vorbei sind.

Und dann taucht Dirty Harry doch noch persönlich auf: Das Drehbuch sah ein paar Szenen vor, die Eastwood zusammen mit John F. Kennedy zeigen. Zur Visualisierung dieser Aufnahmen bedienten sich die Computer-Tricktechniker der Firma R/Greenberg-Associates (RGA) beim Bildmaterial des Siegel-Klassikers, das in Originalaufnahmen des Kennedy-Besuchs in Dallas einkopiert wurde. Da die Böser-Bulle-Pose Eastwoods nicht ganz der eines konzentrierten Secret-Service-Mannes entsprach, wurde sein Aussehen künstlich verändert. Der Computer verpaßte ihm einen neuen Haarschnitt und einen neuen Anzug, seine Krawatte wurde enger geschnürt. Ein US-Regisseur hätte diesen verblüffenden Effekt wahrscheinlich gemolken bis zum Gehtnichtmehr. Petersen setzt ihn sparsam, ganz natürlich ein, als eine Dokumentarfilmszene, die über einen TV-Bildschirm flimmert.

Die Rolle des Dirty Harry, mit der seine Starkarriere begann, bekam Clint Eastwood nur durch einen glücklichen Zufall. Eigentlich war das alte Mafia-Hätschelkind Frank Sinatra für den Part vorgesehen, der zog sich aber glücklicherweise eine Handverletzung zu. Auch für „In the Line of Fire“ war Eastwood nicht die erste Wahl. Warren Beatty und Sean Connery waren im Gespräch und auch Robert Redford. Als Redford sich endlich begeistern konnte, war es zu spät. Eastwood hatte schon zugeschlagen. Gott oder wem auch immer sei Dank, denn wenn man den Film sieht, kann man sich eigentlich niemand anderen als ihn in der Rolle vorstellen. Eastwood ist es auch zu verdanken, daß John Malkovich, mit dem er „schon seit Jahren versucht, zusammenzuarbeiten“, den besessenen Attentäter Mitch Leary alias Booth spielt.

Als er das Drehbuch bekam, war Malkovich zunächst nicht sehr angetan von der ganzen Sache. Ihm schien es „zu populär, einen Action-Helden zu spielen“. Doch dann entschloß er sich doch und gibt nun mit einer kultivierten Kälte und einer mühsam im Zaum gehaltenen Bösartigkeit einen der gruseligsten Schurken der Filmgeschichte ab (wer zum Teufel war Hannibal Lecter?). Die Fellatio mit einer Pistole war seine Idee, „Petersen fand es gut“, erzählt er, „weil es krank aussah“.

Mit diesen beiden Rollen dürften zumindest zwei kommende Oscar-Nominierungen schon feststehen, und auch der Regisseur darf sich Chancen ausrechnen. Herr Petersen heißt ab jetzt sowieso nur noch Woafgäng Pietersn.

„In the Line of Fire – Die zweite Chance“ von Wolfgang Petersen. Mit Clint Eastwood, John Malkovich, Rene Russo u.a.; USA 1993, 123 Min.