Ich gegen meinen Bruder

Migrationsgeschichten im Film – Eine Tagung in Arnoldshain  ■ Von Dorothee Wenner

Seit Jahren warte ich auf gute Nachrichten aus B., aber es kommt nur immer dicker“, seufzte ein BBC- Auslandskorrespondent und spielte einen melancholischen Abend lang mit dem Gedanken, das Fach zu wechseln und nur noch Drehbücher für leichte TV-Serien zu schreiben. Das journalistische Grundgesetz „good news are no news“ greift irgendwann doch die strapazierte Psyche derjenigen an, die die täglichen Katastrophennachrichten produzieren. Den Konsumenten bleibt zumindest die Möglichkeit, den Kanal zu switchen oder die entsprechenden Artikel zu überblättern. Im Wechselspiel von Gier und Desinteresse am Unfaßbaren, das sich anderswo auf der Erde ereignet, haben sich für viele Länder der „Dritten Welt“ mit ihren Namen identische Raster und Schablonen entwickelt. Somalia, Haiti, Burundi, Kambodscha.

Alltag scheint sich an den medienpolitisch derzeit modernen Krisenherden genauso wenig zu ereignen wie irgendetwas Schönes oder Lustiges. Der französische Essayist Pascal Bruckner nennt dieses Phänomen das „Diktat des mitleidigen Blicks“. „Die Einwohner der ,Dritten Welt‘ dürfen nur als Aufständische oder Leidende existieren, als Opfer oder Kämpfer. Ein glücklicher Eingeborener, das ist eine Fälschung, eine Quadratur des Kreises: Es ist viel besser, man zeichnet ihn als gekrümmte Gestalt in einem Tränental und begräbt seine Freiheit im Gejammer um ihn.“

Das mediale Resulat des mitleidigen Blicks sind in der Mehrzahl irgendwie voraussehbare Filme und Reportagen über die „Dritte Welt“. Wenn „Äthiopien“ im Titel einer Sendung auftaucht, scheinen die nächsten 45 Minuten Betroffenheit vorprogrammiert. Auf der Suche nach Gegenbildern zum visuellen Dogmatismus gab es vor einigen Tagen in der Evangelischen Akademie Arnoldshain eine Auswahl von Filmen zu sehen, in der der Süden über den Süden spricht. „Migrationsgeschichten“ war das Thema des „12. Fernseh-Workshops Entwicklungspolitik“ – Filme und Vorträge über die gigantischen Völkerwanderungen am Ende des 20. Jahrhunderts.

„Ich gegen meinen Bruder. Ich und mein Bruder gegen meinen Neffen. Ich, mein Bruder und mein Neffe gegen unseren Nachbarn. Ich, mein Bruder, mein Neffe, unser Nachbar gegen alle anderen.“ Hans Groffebert, Koordinator des Fernseh-Workshops, zitiert diesen Nomaden-Aphorismus gern als eine Spitze gegen die verbreitete Vorstellung vom gemein besseren Drittweltler. Dieses Sprichwort, so Hans Groffebert, sei ein eher pragmatisches Pendant zum „Alle Menschen sind Brüder“-Idealismus. So gäbe es beispielsweise in vielen afrikanischen Kulturen durchaus Möglichkeiten für den anderen, den Fremden, sich in eine bestehende Gemeinschaft zu integrieren. Die Reglementierungen mögen zwar sehr strikt sein, sind aber selten so barbarisch wie das hierzulande praktizierte „Blutrecht“. Egal wo auf der Welt die von Hunger, Kriegen oder Öko- Katastrophen aus ihrer Heimat Vertriebenen sich niederlassen, für mittellose, in Not geratene Flüchtlinge ist es überall kompliziert und langwierig, ein neues Zuhause zu finden.

Auch im eigenen Land. Um eine solche „innere Migration“ geht es in „Bashu, der kleine Fremde“, ein Spielfilm aus dem Iran von Bahram Beizai. Bashus Familie kommt bei einem Bombenangriff an der Grenze zum Irak ums Leben, der etwa Zehnjährige flieht in ein Dorf im Norden des Landes, wo die Menschen viel hellere Haut haben und einen arabischen Dialekt sprechen, den er nicht versteht. Naii, eine alleinerziehende Mutter, adoptiert Bashu gegen den Willen und den „guten Rat“ ihrer Nachbarn. Weil sich verbal niemand mit Bashu verständigen kann, läßt der Film viel Platz für Gesten und Blicke. Der Zuschauer sieht die Geschichte aus der Perspektive des Fremden, der nicht genau versteht, was im Dorf vor sich geht, aber deutlich zu spüren bekommt, nicht willkommen zu sein. Die Feindseligkeit der anderen macht Bashus Verhältnis zu Naii brisant: Der Junge ist allein von ihrem Mitleid, von ihrer Hilfe abhängig. Er ist durch den Krieg viel älter geworden, als er aussieht, und erträgt es nicht, die Rolle des dankbaren Kindes zu spielen. Obwohl Naii ihn mit Großmut behandelt, reißt Bashu eines Tages ohne jede Erklärung aus. Als er zurückkommt, verprügelt ihn Naii. Merkwürdigerweise heißen Bashus Schläge ihn aufrichtiger willkommen, als es geöffnete Arme hätten tun können. Das hat nichts mit Masochismus zu tun, im Gegenteil: Die Szene ist ein Plädoyer gegen die Erniedrigung eines Menschen zum Opfer oder zu einer bemitleidenswerten Person, die für die eigenen Taten nicht mehr verantwortlich gemacht wird.

Auf 500 Millionen schätzen Experten des Internationalen Roten Kreuzes und des UN-Umweltprogramms (UNEP) die Gesamtzahl der Flüchtlinge auf der Welt, von denen die meisten in den Ländern des Südens bleiben. Der Film, der bisher am effektivsten diese Horror-Statistik ausgenutzt hat, ist der vielbesprochene britische Polit- Fiction-Thriller „Der Marsch“ von David Wheatly. Hunderttausende hungernder Afrikaner machen sich auf den Weg, um vor den Augen der Reichen zu sterben. Unter der Führung eines schwarzen Fanatikers rollt die gesichtslose Menschenmasse wie eine Lawine auf Europa zu. Der Film liefert eine nahezu komplette Ikonographie zur paranoiden Debatte des Nordens um die Konsequenzen der „Überbevölkerung“. Weil er fast alle Klischees bedient, paßt „Der Marsch“ zu einer relativ neuen Tendenz in der Entwicklungspolitik, die vor allem für Afrika das 70er-Motto von der „Hilfe zur Selbsthilfe“ rigoros über Bord geworfen hat. Um den eigenen Kragen besorgt, entwirft der Norden derzeit ein „Elendsmanagement für den Sozialfall Afrika“ (Groffebert). Die Voraussetzung dafür, daß politische Vormundschaften des Nordens gegenüber dem Süden als salonfähige Ideen diskutiert werden, ist die Ent-Individualisierung der „Dritten Welt“-Probleme“ in den Medien. Dr. Manfred Wöhlcke von der Stiftung Wissenschaft und Politik zum Beispiel, sprach in seinem Vortrag über Umweltflüchtlinge häufig von „Güterabwägung“, wenn er Argumente für Zwangsmaßnahmen zur Geburtenkontrolle in „überbevölkerten“ Regionen suchte.

Daß Filme aus dem Süden potentiell ein mediales Gegengewicht zu den Katastrophenbeschwörungen der TV-Anstalten und „Dritte Welt“-Experten sein können, darüber war sich das Fachpublikum des Fernseh-Workshops grundeinig. Gestritten wurde erst, als es um einzelne Filme ging und ob sie für diesen Zweck geeignet seien. Während „Bashu“ als ein iranischer Film mit einer sehr westlichen Dramaturgie nur mit lobenden Worten bedacht wurde, fiel „Zan Boko“ von Gaston Kaboré irgendwie durch. Dieser Film aus Burkina Faso erzählt von den Machenschaften der schwarzen High- Society, die ihre Luxusbedürfnisse vor allem beim Wohnungsbau skrupellos auf Kosten der armen Nachbarn auslebt.

Die Gründe für das eher negative Urteil über „Zan Boko“ passen zu einer langen Liste von Filmen aus dem Süden, die im Norden einfach kein Publikum finden. Die Charaktere werden zu holzschnittartig empfunden, zu überzeichnet das Schauspiel, zu geradlinig die Handlung, zu wenig subtil die Geschichte und deswegen im Kern: langweilig. So berechtigt diese Kritik in vielen Fällen auch sein mag, so heikel ist ihr Umkehrschluß. Von afrikanischen Filmen zu erwarten, sie müßten für ein hiesiges Publikum „nachvollziehbar“ sein, ist quasi eine Aufforderung an entsprechende Regisseure, sich an westlichen Konventionen des cinematographischen Erzählens zu orientieren. Mal abgesehen vom kulturimperialistischen Impetus solcher Kritik, könnte die eingeklagte Langeweile über so manchen Film aus der „Dritten Welt“ schließlich auch mit einer gewissen Unfähigkeit zu tun haben, andere Filmsprachen als die eigene zu goutieren.

In Afrika, so wird erzählt, tut sich das Publikum damit weniger schwer. Sogar über Uralt-Episoden von „Tatort“ oder „Der 7.Sinn“ würde man sich zum Beispiel in Senegal herzlich amüsieren. Nach Pascal Bruckner liegt genau an dieser Stelle ein weiterer Hase begraben: „Es ist so viel leichter, abstrakt mit glücklichen Menschen zu sympathisieren. Die Sympathie für glückliche Menschen erfordert mehr Seelengröße, denn sie nötigt uns, gegen die Klippe des Neids zu kämpfen.“