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Strom? Doch nicht in Freetown!

Wo Überleben schwieriger ist als Putschen: Im verarmten Kleinstaat Sierra Leone an der Sumpfküste Westafrikas / Junge Offiziere und alte Probleme  ■ Aus Freetown Thomas Heinloth und Henrike Thomsen

Akkurat verputzte Lehmhütten, brütende Hitze, und durch den Busch dringt monotones Trommeln: Für Liebhaber perfekt inszenierter Bilder sind die wenigen Touristen-Enklaven in Sierra Leone ein Traumziel. „Afrika pur“, schwärmt ein französischer Reiseveranstalter. Die Hauptstadt Freetown präsentiert er seinen Gästen lieber nur aus der Luft.

„Freetown ist die Inkarnation des Chaos“, heißt es. Alle erzählen die gleiche Geschichte. Von der schwül-feuchten Luft, die einem den Atem nimmt. Von dem zehn Zentimeter dicken Bündel vergammelter Scheine, die einem für hundert Dollar beim Zwangsumtausch hingeknallt werden. Von der Odyssee per Auto und Fähre ins Zentrum. Von dem abenteuerlichen Slalom um Schlaglöcher, Hundekadaver, ausgebrannte Lkw-Wracks und todesmutige Straßenhändler. Und von der dummen Frage, warum denn die Straßenbeleuchtung nicht brennt. Strom? Das hier ist Freetown.

Am nächsten Tag gibt es geduldigere Antworten. Das mit dem endlosen Transfer vom Flughafen sei nicht immer so gewesen, drei Pendel-Helikopter seien aber leider abgestürzt und eine Hoovercraft-Fähre untergegangen. Auch Strom habe es mal rund um die Uhr gegeben, erzählt der Lehrer Mansky. Wann? „Weiß ich nicht mehr.“

Nur auf den grünen Hügeln über der Stadt brennen die Lampen – gespeist aus den Generatoren der Reichen. Im August gehen auch hier die Lichter aus. Dann vermischen sich Regen und Staub zu brodelnden Sturzbächen. In Georgebrook und den anderen Elendsvierteln ertrinken jedes Jahr ein paar Leute in ihren Hütten. Mit einer Mischung aus Trotz und Verzweiflung erzählt Maria, bis auf die Haut durchnäßt, was ihr am meisten fehlt: Wasser. Trinkbares feilich. Das ist auch im Zentrum von Freetown Mangelware.

Gebaut haben die „Freie Stadt“ ehemalige Sklaven, die die Briten 1787 hier an der westafrikanischen Küste ansiedelten. Die 1808 gegründete Kolonie Sierra Leone prosperierte, und als sich das Empire 1961 zurückzog, erzählen die Alten, war die Welt noch in Ordnung. Die Eisenbahn fuhr, in den Krankenhäusern wurde man gesund, statt sich Hepatitis zu holen, es gab Reis und sogar eine eigene Fernsehstation. Heute ist der Lack ab. Von den britischen Telefonzellen blättert die Farbe genauso wie von dem Schild am Rathaus, auf dem Kolonialgouverneur Clarkson eine überhebliche Mahnung hinterließ: Durch ihr „perverses und ignorantes Verhalten“, hatte er schreiben lassen, würden sich die Sierraleoner selbst zugrunde richten.

Seit Clarksons Abschied ist das Land nicht ärmer geworden. Vor den Traumstränden liegen die fischreichsten Gewässer Westafrikas, dahinter fruchtbares Land, wo Reis, Bananen, Mango und Kaffee wachsen. Die Bodenschätze – Gold, Diamanten und das für die Raumfahrt unentbehrliche Rutil – sind längst nicht erschöpft. Ein reiches Land. – Ärmer geworden ist die Bevölkerung. Seit Ende der siebziger Jahre sinkt das Bruttosozialprodukt und mit ihm das Pro- Kopf-Einkommen. Lehrer Mansky verdient monatlich 10.000 Leone, rund 30 Mark, den Preis für einen Sack Reis. Die heißt es schnell auszugeben, denn die Inflation frißt zeitweise bis zu 70 Prozent des Gehalts. Bei über 1,8 Milliarden Mark Auslandsschulden ist weder an Gesundheitsvorsorge noch an Bildungsprogramme zu denken. Heute sind im Land mit der ältesten Universität Westafrikas 85 Prozent der Menschen Analphabeten. Sierra Leone – so groß wie Bayern – ist beim Diamantenexport weltweit auf Platz zwei – und bei der Kindersterblichkeit die Nummer eins. Von 100 Neugeborenen werden 20 nicht einmal ein Jahr alt.

Die Kleinstadt Mattru nahe der Mangrovensümpfe am Shebro-River wirkt wie eine Geisterstadt. Früher lebte die Region von einer Palmölmühle, die Mitte der Siebziger mit Krediten der Weltbank finanziert wurde. Die Bauern opferten ihre Reisfelder einer gigantischen Palmenplantage mit schnurgeraden Alleen. Vor zehn Jahren raffinierte man hier den letzten Tropfen Palmöl. Damals wurden in staatlichen Betrieben, so auch in Mattru, kaum noch Löhne ausbezahlt. Die Arbeiter plünderten im Gegenzug Fabrik und Plantage. Nur ein alter Mann ist geblieben, der im zerschlissenen Trenchcoat über die letzten Wellblechfetzen wacht. Ein Stück den Fluß hinunter kochen Frauen in rußgeschwärzten Fässern das Palmöl wieder über Holzfeuern ein.

„Hier funktioniert nur die Korruption“, sagt ein Mitarbeiter eines deutschen Agrarprojekts. Mit den Jahren und den sinkenden Reallöhnen sind auch die letzten Schamgrenzen gefallen. Mambu Feka aus Moyamba erinnert sich gut an den Tag, an dem seine Stadt dem einstigen Innenminister Abulai Conteh 200.000 Mark übergab, damit der für Strom sorge. „Wir dachten, es ginge so schneller.“ Der Innenminister, der in Moyamba ein Ferienhaus hatte, reiste mit Generator an. Beim Versuch, die maroden Pisten für seinen Mercedes zu ebnen, gruben Bulldozer die Wasserleitungen auf. „Da haben wir resigniert.“

„Korruption und Mißwirtschaft werden fürstlich belohnt“, meint Mansky. „Von denen, die unser Land plündern.“ Jährlich werden Diamanten und Fisch im Wert von 850 Millionen Mark aus Sierra Leone geschmuggelt, wo der Fiskus 1990 gerade 105 Millionen Mark einnahm und der offizielle Exporterlös 190 Millionen Mark betrug. Die Preise für Lebensmittel und Brennstoffe klettern ständig. Streiks gegen Sparmaßnahmen und ein Wechselbad der Zusagen und Kündigungen von IWF- Krediten haben die Wirtschaftspolitik lahmgelegt. Für 1994 hat der IWF aber wieder lose Kredite versprochen, nicht zuletzt, wie ein Vertreter lobend anerkannte, weil „dieses Land trotz der Wirtschaftsmisere in der Lage ist, Krieg zu führen“.

Krieg herrscht in Sierra Leone seit März 1991, als Rebellenführer Charles Taylor aus dem benachbarten Liberia Soldaten auf einen „Rachefeldzug“ schickte: Sierra Leone gehörte zu den sieben westafrikanischen Ländern, die gegen Taylor eine gemeinsame Armee, die ECOMOG, aufgestellt hatten. Zu Taylor stieß rasch der abtrünnige sierraleonische Obergefreite Fonday Sankoh, der mit seiner „Vereinigten Revolutionären Front“ (RUF) zum Sturz der Regierung von Präsident Joseph Saidu Momoh und seiner Partei „Volkskongreß“ (APC) aufrief. Wie in Liberia überraschte die zusammengewürfelte Truppe die 3.000 Regierungssoldaten und drang in wenigen Wochen bis zur zweitgrößten Stadt, Bo, vor. Im September 1991 war der Distrikt Kono, in dem ein Großteil der Bodenschätze liegt, in der Hand der Rebellen.

Während die vom Krieg Vertriebenen in Höhlen und Autos lebten, verschlechterte sich auch die Versorgung der Regierungssoldaten immer mehr. Ende 1991 brachte der Hauptmann Valentine Strasser einen schwerverletzten Freund zurück ins Lager. Ihm wurde ein Transport ins Krankenhaus verweigert, obwohl Hubschrauber zur Verfügung standen. Der Verletzte bekam nicht einmal eine Infusion: sein Dienstgrad war zu gering.

Kurze Zeit später war Strasser wieder in Freetown. Sein Freund war tot, dafür hatte der 24jährige 60 Mitstreiter dabei. Am Morgen des 29. April 1992 putschte die Truppe – zu ihrer eigenen Überraschung erfolgreich. „Die haben gedacht, sie gehen als Märtyrer in die Geschichte ein“, sagt die Journalistin Elena Yabu, „aber die APC war sich ihrer Macht einfach zu sicher. Die traf der Coup völlig unvorbereitet.“ Schon am Nachmittag war Momoh auf der Flucht. Seither regiert in Freetown ein „Nationaler Provisorischer Regierungsrat“ (NPRC) mit Strasser als Präsidenten.

„Sonst sind wir ängstlich, wenn wir Soldaten sehen“, erzählt der Radioreporter Oliver John. „Aber an dem Tag haben wir gejubelt. In allen Straßen tanzten sie Reggae. Es war ein großes Fest.“ Die Erleichterung über das Ende der APC-Agonie ist allgegenwärtig, und die hastige Umbenennung des Staatsstreiches in „Revolution“ wird nicht als Geschichtsklitterung empfunden. Jedes Kind zählt einem nun artig die Errungenschaften des Umsturzes auf: der Reispreis stabil, der Krieg fast gewonnen und die Fußballnationalmannschaft wieder obenauf. Das stimmt alles, ist nur keine Eigenleistung des NPRC. Den Reispreis drückte der Weltmarkt, die RUF – die sich um den Machtwechsel nicht scherte – floh vor nigerianischen Piloten, und für die Tore im Freetowner Stadion sorgt ein neuer Trainer.

Inzwischen mehren sich denn auch Zweifel am versprochenen Neubeginn. „Im Sande verlaufen“ sei die Wende, titelte die Zeitung New Shaft zum Geburtstag der „Revolution“. Die Skepsis ist verständlich. Für spürbare Reformen ist der Spielraum des NPRC zu gering. Da sind die alten Seilschaften, die alte Handelselite – und die Instabilität in den Nachbarländern. „Für die Region ist Sierra Leone ein Dominostein“, sagt ein Diplomat. „Wenn da was ins Rutschen kommt, kippen die mit.“

Wer auf den Übergang von einer Militär- zu einer zivilen Regierung hofft, blickt derzeit besorgt auf die Führungsmacht Westafrikas – Nigeria. In Freetwon wird Nigerias abgetretener Militärdiktator Babangida – im eigenen Lande mittlerweile verhaßt – als weiser Staatsmann verehrt. „In jedem Fall“, sagt Elena Yabu, „hat Nigeria Signalwirkung auf die Frage, ob das Militär die Macht abgibt.“

Bis dahin ist es ein weiter Weg. An die Omnipotenz der auf über 10.000 Mann aufgestockten Armee haben sich die Sierraleoner gewöhnt. Wenn abends um sieben am NPRC-Sitz die Landesfahne eingeholt wird, steht Freetwon still. Und in Bo präsentierten Straßenmaler im letzten Advent Staatschef Strasser als Weihnachtsmann – an seiner Seite zwei Englein, ein schwarzes und ein weißes. Doch die Machtbalance im Militär ist fragil. Über 5.000 Gefängnisinsassen hatte das neue Regime nach seiner Machtergreifung bewaffnet und nach sechs Wochen „Grundausbildung“ an die Front geschickt. Heute sind die letzten Rebellen-Hochburgen zurückerobert, der Krieg geht zu Ende, und der Sold-Etat für die neuen Rekruten geht zur Neige. „Ein gewaltiges Sicherheitsrisiko“, sagt ein deutscher Diplomat.

Woher kommt also die Rettung? „Ohne euch wären wir nichts“, meint der Strandjunge Issah. Am liebsten möchte er alle Schwarzen nach Europa verschicken, während die Europäer in Westafrika Ordnung schaffen. Wie Issah glauben viele in Sierra Leone blind an die Überlegenheit der Weißen. Mitarbeiter eines Agrarprojekts in Kenema importierten Macheten und Spaten aus Übersee, obwohl das Werkzeug an jeder Straßenecke von Schmieden gefertigt wird; die Einfuhr verschlang den Jahresetat des Projekts. Jeans aus US-Kleiderspenden werden teurer verkauft als Damastanzüge, die der Schneider von nebenan maßgerecht anfertigt.

Dennoch: Tiefverwurzelte mythische Traditionen leben auch im Coke-Zeitalter fort. Töchter von Oxford-Absolventen gehen in die „Buschschule“, um rituelle Tänze und Gesänge zu lernen. Dort werden sie auch beschnitten. Die von Frauen gebildeten Geheimgesellschaften, die die Buschschulen organisieren, haben großen Einfluß. Ein Regierungsbataillon ließ sich bei der Rückeroberung des Kono- Distrikts von einer 73jährigen „Hexenmeisterin“ führen. Die Rebellen engangierten ihrerseits eine junge Zauberin und deren magischen Spiegel. Der zeitgleiche Einsatz von Maschinengewehren und Magie ist kein Widerspruch.

Die Sierraleoner leben ganz selbstverständlich im Spagat zwischen zwei Welten. Im poda-poda, wie die klapprigen Überlandbusse heißen, kriegen Mütter und Ältere die Sitzplätze. Wenn das Gefährt mal wieder verreckt, schieben alle mit an. Keine Ungeduld kommt auf während der stundenlangen Fahrt durch die brütende Hitze im Busch oder bei den endlosen Militärkontrollen. „Wir haben keine Zeit zum Meckern“, sagt der Fahrer Ali. „Wir sind mit dem Überleben beschäftigt.“

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