■ Italiens erster großer Korruptionsskandal vor Gericht
: Der „Vater aller Prozesse“

Noch sind sie alle nur als Zeugen geladen, die Politiker des römischen „Palazzo“, vor allem die Parteivorsitzenden und die ehemaligen Regierungschefs: angeklagt sind die Manager des Ferruzzi-Konzerns wegen der Zahlung von umgerechnet an die 300 Millionen Mark, damit ein genau eingefädelter Deal um den Verkauf und Rückkauf des staatlichen Chemiekonzerns ENI in die „richtige“ Richtung lief. Doch das Verfahren wird die Weichen für die Behandlung des gesamten Komplexes stellen, dem Italien den Namen „Tangentopoli“ gegeben hat:

In – bisher – gut dreitausend Einzelermittlungen unter dem Namen „Mani pulite“ (saubere Hände) kam ein flächendeckendes System der Schmiergeldzahlungen ans Licht. Es betraf nicht nur die großen Operationen der Großindustrie, sondern auch Alltäglichkeiten wie die Erstellung von Dokumenten und die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens. Leistungen, die dem Bürger ja schon als Steuerzahler zustehen, für die er aber in großen Teilen Schmiergeld zahlen mußte.

Zur Debatte steht, ob dieses System der Zahlung auch für selbstverständliche, dem Bürger zustehende staatliche Leistungen eine traditionell Italien-immanente Tendenz widerspiegelt, sozusagen „Normalität“ ist, wie das Politiker vom Schlage des langjährigen Sozialistenchefs Bettino Craxi glauben machen wollen. Oder ob nicht vielmehr die Parteioberen in den letzten Jahrzehnten den Staat mehr und mehr als ihre Privatveranstaltung angesehen und damit nicht nur die öffentlichen Finanzen, sondern auch die Wirtschaft und selbst den kleinen Mann zu einer jederzeit für ihre eigenen Kassen melkbaren Einrichtung degradiert haben.

Sehr viel hängt daher vom Mailänder Ferruzzi-Prozeß ab, dem ersten der Aktion „Mani pulite“; nicht umsonst nennt ihn Ankläger di Pietro „den Vater aller Prozesse“. Schätzt das Gericht die zur Verhandlung stehenden Vorgänge nur als Vergehen gegen die Gesetze zur Parteienfinanzierung oder gar als freiwillige, nicht unter Druck entstandene Bestechung ein, präjudiziert es alle nachfolgenden Prozesse – speziell die gegen Politiker. Das Grundtheorem der Mailänder Staatsanwälte, wonach „Tangentopoli“ ein vorwiegend durch Erpressung und reines Macht- und Profitstreben der politischen und administrativen Entscheidungsträger zustande gekommener Filz ist, wäre dann bequem zu unterlaufen.

Bettino Craxi hat eine derartige „Lösung“ der politischen Seite bereits zu sondieren begonnen. Vergangene Woche hat er sich zweimal mit seinem bisherigen „Erzfeind“, Untersuchungsrichter Antonio di Pietro, getroffen. Daß über die Gespräche absolut nichts bekannt wurde, nährt wohl zu Recht die Ängste derer, die im kommenden Prozeß den Anfang vom Ende der Ermittlung „Mani pulite“ sehen. Werner Raith, Rom