„Schmiergeldrepublik“ vor Gericht

In Mailand beginnt der erste Großprozeß wegen der Bestechungsaffären / Vor Gericht steht – zunächst als Zeugen – auch die gesamte bisherige Führerschaft der Regierungsparteien  ■ Aus Rom Werner Raith

Für den Untersuchungsrichter Antonio di Pietro, seit einem Jahr so etwas wie Italiens Symbol fürs Saubere, ist das Verfahren „Der Vater aller Prozesse“ – „zumindest wenn man das, was verhandelt wird, als ,Mutter aller Schmiergeldskandale‘ ansieht“, wie er unter Nutzung einiger Neologismen dazusetzt. Für weniger poetische Beobachter wie den Leitartikler von L'Espresso, Giorgio Bocca, handelt es sich eher um „einen ganz banalen, wenn auch mit unglaublichen Geldmengen versehenen Fall von Korruption, der in Italien zum Regelfall geworden ist“.

Der Fall, der seit heute vor dem Landgericht Mailand verhandelt wird, betrifft das bis vor kurzem mächtigste Landwirtschafts- und Nahrungsmittelimperium Europas, den Ferruzzi-Konzern. Der Trust hatte vor fünf Jahren die staatliche Chemieholding ENI übernommen und mit seiner Firma Montedison zur Gruppe ENIMONT zusammengeschlossen – um das Geschäft zwei Jahre danach wieder rückgängig und dabei einen Profit von umgerechnet an die drei Milliarden Mark zu machen. Damit alles so lief, soll Ferruzzi-Chef Raul Gardini umgerechnet mehr als 300 Millionen Mark an Schmiergeldern bezahlt haben – an alle fünf damals koalierenden Regierungsparteien (Christ- und Sozialdemokraten, Sozialisten, Liberale und Republikaner), dazu an treuhänderische Gerichtspräsidenten und einflußreiche Wirtschaftsjournalisten.

Gardini selbst kann nicht mehr aussagen – er hat sich vor einem Vierteljahr erschossen, als seine Verhaftung unmittelbar bevorstand und ruchbar wurde, daß sein Konzern aufgrund der internationalen Wirtschaftskrise vor der Pleite stand. Geladen sind, neben dem als Schmiergeldzahler angeklagten gesamten Ferruzzi-Management jener Jahre, auch sämtliche Vorsitzenden der Regierungsparteien. Sie allerdings treten zunächst nur als Zeugen auf – bei ihnen mußte vor vertieften Ermittlungen zuerst die parlamentarische Immunität aufgehoben werden.

Der Prozeß ist der Anfang einer langen Reihe von Verfahren, mit denen der geradezu unglaubliche Filz der sogenannten „Schmiergeldrepublik“ („Tangentopoli“ – von tangente, Schmiergeld) gerichtlich gewertet werden soll. Mehr als 1.000 Unternehmer, an die 300 Abgeordnete und Senatoren, ein Dutzend ehemaliger Minister und vier frühere Ministerpräsidenten (Giulio Andreotti, Ciriaco De Mita, Arnaldo Forlani von der Christdemokratischen, Bettino Craxi von den Sozialisten) werden sich verantworten müssen.

Die nach Erkenntnissen der Ermittler geflossenen Schmiergelder waren enorm und würden, zurückbezahlt, ganz Oberitalien drei Jahre von der Einkommensteuer befreien können. Alleine der Anfang des Jahres zurückgetretene Gesundheitsminister De Lorenzo hat, um Reue zu zeigen, bereits die Rückzahlung von umgerechnet 30 Millionen Mark angekündigt; an den 17 Jahre waltenden PSI-Chef Bettino Craxi sollen an die 60 Millionen Mark geflossen sein; teilweise wurden diese Gelder nicht an die Partei weitergeleitet, sondern persönlich vereinnahmt.

Goldene Zeiten haben auch Beamte erlebt. Bei dem für die Genehmigung neuer Arzneimittel zuständigen Beamten des Gesundheitsministeriums, Poggiolini, fand die Polizei ein Zimmer voller Goldbarren, Edelsteine, Schmuck und wertvoller Kunstgegenstände. Der bei der Entflechtung von ENI- Montedison vom Schiedsgericht eingesetzte Prokurator – ein Landgerichtspräsident – bekam für die vierzehn Tage seiner Mittler-Waltung vom Ferruzzi-Konzern umgerechnet an die 300.000 Mark zugesteckt.

„Wer nicht schmierte, beging Selbstmord“

Interessant – und daher Di Pietros Ausdruck von „Vater aller Prozesse“ – wird vor allem die auf künftige Prozesse berechnete Verteidigungslinie der Politiker. Top- Geschmierte wie Bettino Craxi versuchen mit der Versicherung durchzukommen, sie hätten all das gar nicht gewollt. Doch die anderen Parteien, allen voran die Christdemokraten, hätten so viele Zuwendungen von der Wirtschaft erhalten, daß politisch nur überleben konnte, wer mitgemacht hat.

Dem widersprechen die Industriekapitäne heftig: Ihrer Einschätzung nach beging in den vergangenen zwei Jahrzehnten „jeder Selbstmord, der sich von Schmiergeldzahlungen ausschloß“, so der Generalmanager des Olivetti- Konzerns, Carlo De Benedetti. Die Staatsanwälte neigen dieser Denkweise zu: Sie verfolgen die Unternehmer zwar wegen Bestechung, die Politiker aber mit den ungleich stärkeren Gesetzen über Erpressung (wenn, wie üblich, Drohungen mit der Forderung nach Parteispenden verbunden waren) und Hehlerei (wenn die Einnahmen zwecks Verschleierung gewaschen wurden), mitunter gar als Bildung krimineller Banden (wenn mehr als drei Personen zusammenwirkten).

Tatsächlich steht die Rechtfertigung Craxis und anderer Politiker, wonach sie sich nur an ein bestehendes System angepaßt hätten, auf eher tönernen Füßen. Daß es Schmiergeldzahlungen in beträchtlicher Höhe und an verschiedene Parteien bereits seit Kriegsende gegeben hat, ist gerichtsnotorisch. Doch solche Fälle, auch wenn sie sich häuften, waren „etwas ganz anderes als das, was wir nun als Tangentopoli vor uns haben“, wie Giorgio Bocca vermerkt: „Aus der gezielten Bestechung des Politikers bei bestimmten Entscheidungen wurde die Forderung der Politiker, für jeden Handschlag, ja selbst die dem Bürger zustehenden Leistungen des Staates, geschmiert zu werden.“ Oft mußte man sogar für die Einweisung ins Krankenhaus, die Ausstellung eines Personalausweises oder den Liegeplatz auf dem Friedhof schmieren, sollte sich der Vorgang nicht monatelang verzögern.

Verantwortlich für diese Ausdehnung der Schmiergeldpraxis ist, nach Ansicht der Ermittler, vor allem Bettino Craxi selbst: Er hat seit seinem Aufstieg zum Vorsitzenden der „Sozialistischen Partei“ ein perfektes System der „Lottizzazzione“ entwickelt, der Aufteilung aller melkbaren Einrichtungen nach dem Proporz der Regierungsparteien (wobei zwecks Beruhigung auch die Opposition ab und zu Anteile erhielt): Wer immer einen öffentlichen Auftrag, eine Stelle in einem Amt wollte, mußte bezahlen. Darüber hinaus wurde bei Koalitionsverhandlungen genau festgelegt, welche Partei über die Besetzung welcher Ämter verfügen, welche Staatsbetriebe welcher Partei sozusagen „gehören“ sollten – und das reichte vom Staatsfernsehen RAI über öffentliche Beteiligungen an Zeitungen (z.B. Il Giorno) bis zu den großen Industriebetrieben der öffentlichen Hand – wie eben jenem Konzern ENI, dessen Verkauf an Ferruzzi und dessen unvermittelter Rückkauf nun Gegenstand des Mailänder Prozesses ist.

Das Verfahren ist auf mehr als ein halbes Jahr Dauer angelegt. Erst beim Urteil wird sich zeigen, ob der „Vater aller Prozesse“ ein Schritt voran ist in der Selbstreinigung eines korrupten Systems oder ob die Wende zurück bereits begonnen hat.