„Das Scheitern war programmiert“

■ Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann vom Bündnis 90/Grüne kritisiert die Verfassungskommission: „Sie hat die Chance der Wiedervereinigung nicht genutzt“

taz: Sie haben vor Monaten die Verfassungskommission aus Protest verlassen. Jetzt liegt der Arbeitsbericht des Gremiums vor. Bereuen Sie Ihren Entschluß?

Wolfgang Ullmann: Der Bericht ist ein stattliches Konvolut, das auf jeden Fall der Arbeitsleistung des Sekretariates das allerbeste Zeugnis ausstellt, inhaltlich aber meinen Entschluß rechtfertigt. Ich hatte immer die weitreichenden Verfassungsaufgaben vor Augen, die mit dem Vereinigungsprozeß auf die Tagesordnung gesetzt worden sind.

Aber selbst in dem engen Rahmen, den der Einigungsvertrag gezogen hat, hat die Kommission ihre Aufgabe nicht erfüllt. Das gilt für den Bereich der Staatsziele genauso wie für die Erarbeitung einer neuen Finanzverfassung. Selbst von der Idee, das Grundgesetz durch eine Volksabstimmung zur gesamtdeutschen Verfassung zu machen, ist nichts geblieben. Mit einer Volksabstimmung – so deren Gegner – hätte sich an der Verfassungssituation gar nichts geändert. Das zeigt, wie man hier über die verfassunggebende Kraft des Volkes denkt.

Ihre ursprüngliche Idee eines Verfassungsrates unter gesellschaftlicher Beteiligung war schon mit der Einsetzung einer Politiker- Kommission gescheitert. Haben Sie damals noch an die Chance einer modernisierenden Grundgesetzrevision geglaubt?

Doch, doch, ich habe mir schon gesagt, du probierst das noch mal, die Hartköpfe zu überzeugen. Es gab ja auch Phasen, in denen man denken konnte, es gibt Bewegung. Heute weiß ich: Das Scheitern der Kommission war von Seiten der CDU/CSU programmiert. Die SPD hat sich – wenn auch wesentlich moderater – unsere Forderungen zu eigen gemacht. Am Ergebnis hat das nicht viel geändert. Wir haben uns in den wirklich entscheidenden Fragen nicht durchgesetzt. Somit war das Ganze ab einem bestimmten Punkt für mich eine Alibiveranstaltung, an der ich nicht länger teilnehmen mochte. Meine zentralen Kritikpunkte waren: die Ablehnung einer Volksabstimmung über die Verfassung, die Gleichgültigkeit gegenüber den Demokratieerfahrungen der Wendezeit und die Nichtachtung der BürgerInneneingaben. Es gab Hunderttausende von Eingaben. Daß die in den Sitzungen der Kommission so gut wie keine Rolle gespielt haben, werden die Historiker einmal mit Stirnrunzeln zur Kenntnis nehmen.

Teilen Sie die Auffassung, daß die Kommission nur deshalb so abgeschottet agieren konnte, weil es gar kein echtes gesellschaftliches Interesse an dieser Debatte gegeben hat?

Nein, es hat ein breites Interesse gegeben, auch von Seiten der Medien. Wenn die Kommission gewollt hätten, hätte sie ein intensives Gespräch mit der deutschen Öffentlichkeit bekommen, da bin ich sicher.

War die zentrale Entscheidung der Kommission – keine Veränderung des verfassungsrechtlichen Status quo, etwa im Sinne von mehr Bürgerbeteiligung – von außen vorgegeben?

Wir haben mit ziemlichem Schwung angefangen. Das war schon spannend, als etwa Herr Stoiber und Herr Fischer im Zusammenhang mit der Stärkung der Länderkompetenzen in eine Kerbe hieben. Aber auch in dieser Frage sind wir von der Regierung zurückgestutzt worden. Wir haben eifrige Debatten über Staatsziele gehabt. Auch davon ist nicht viel mehr geblieben als verlorene Abstimmungen.

Erbittert es Sie, daß die Gegner der Verfassungsdebatte immer den Slogan „Hände weg vom Grundgesetz“ parat hatten, während sie gleichzeitig – außerhalb der Kommission – weitreichende Verfassungsänderungen durchgesetzt haben?

Erbittern tut es mich nicht, ich bin manchmal zornig, wenn mir Leute vorwerfen, ich wollte eine Totalrevision, ich wolle die Achse des Grundgesetzes nach links verschieben, während sie es sind, die sich in wichtigen Stücken von den guten Traditionen des Grundgesetzes aus dem Jahre 1949 entfernt haben.

In die Verfassung wird das Erbe der DDR-Bürgerbewegung nicht einfließen. Sehen Sie andere Felder, in denen diese Tradition fortwirkt?

Das ist konkret nicht ganz leicht zu beantworten. Das Grundgesetz jedenfalls hat sich als unfähig erwiesen, die neue geschichtliche Realität zu integrieren. Aus der Distanz muß ich sagen: Es ging nicht anders bei den herrschenden Machtkonstellationen. Aber zweifellos war der Verfassungsentwurf des Runden Tisches der sehr viel modernere, im Grunde auch der westdeutschen Realität sehr viel nähere. Deshalb wird der ganze politische, soziale und kulturelle Gehalt dieses am Ende der DDR entstandenen Entwurfes weiterwirken.

Aber die Chance für eine Modernisierung des Grundgesetzes im Zuge der deutschen Vereinigung wurde vertan. Wann kommt die nächste?

Ach, das kann sehr viel schneller gehen, als man denkt. Interview: Matthias Geis