Im Bett mit Brian

Dreißig Jahre Beach Boys: Anlaß für eine Werkausgabe, aber auch für eine Autobiographie, in der Jubilar Brian Wilson seinen kalifornischen Alptraum nachliefert. Muß die Geschichte der Sechziger jetzt neu geschrieben werden?  ■ Von Klaus Walter

Im April 1983 verkündete der damalige US-Innenminister James Watt, daß die Beach Boys in diesem Jahr nicht bei der Feier des Unabhängigkeitstags spielen dürfen. Begründung: sie „ziehen unerwünschte Elemente an. Wir werden niemanden zu Drogen- und Alkoholmißbrauch ermutigen wie in den vergangenen Jahren.“

Die Spekulation aufs Volksempfinden ging daneben: Eine Welle der Sympathie ergoß sich über die Beach Boys. Präsident Reagan zitierte Watt zu sich und erklärte ihm, daß er ein nationales Denkmal in den Schmutz gezogen habe. Zwei Wochen nach dem Nationalfeiertag lud Reagan die Beach Boys zu einem Fototermin ins Weiße Haus.

Ein paar Monate später ertrank, nach 20 Jahren Suff & Drogen obdachlos und hoch verschuldet, Beach-Boys-Schlagzeuger Dennis Wilson ausgerechnet im Pazifik, dem Schauplatz unzähliger Beach- Boys-Songs. Dennis' Witwe, ausgerechnet die uneheliche Tochter des verhaßten Wilson-Vetters und Beach-Boy-Leadsängers Mike Love, wünschte für Dennis eine Seebestattung, die in den USA jedoch verboten ist. Ronald Reagan erteilte die Ausnahmegenehmigung.

Auch Charles Manson war eine Zeitlang mit den Beach Boys befreundet, bis er wegen einiger häßlicher Morde für immer ins Gefängnis mußte und zur Serienkiller-Ikone des US-Undergrounds wurde. (Na ja, Underground? Neulich im Waldstadion trug Axl Rose ein Manson-T-Shirt).

Heroes and Villains: Rezeptionsästhetisches

Bis heute verläuft die Rezeption der Beach Boys im wesentlichen an den beiden protokalifornischen Symbolfiguren Reagan und Manson entlang.

Die weitverbreitete, Common sense-, nennen wir sie „Reagan- Version“, sieht in den Beach Boys eine läppische Strandcombo, die in den frühen Sechzigern aus dem kalifornischen Lieblingssport Surfen einen kurzlebigen Pop-Mode-Stil kreiert hat und seitdem würdelos das Altern bekämpft.

Die Camp/Trash-, nennen wir sie „Manson-Version“, sieht in den Beach Boys besonders farbenfroh perverse Exemplare des American Psycho-Alptraums: Die Metamorphosen des Beach-Boys-Gründers und Hitschreibers Brian Wilson vom sonnigen Strandbubi zum verfetteten, schizoiden Drogen- und Freßmonster und zurück zum psychiatrisch ferngesteuerten, zwangsabgemagerten Pflegefall werden in diesem Zusammenhang gern als symptomatisch gewertet.

Eine minoritäre, quasi „musikologische“ Version rekurriert vor allem auf die hochproduktive Desintegrationsphase der Band ab 1964, als Brian Wilson zum genialsten Popmusiker seiner Zeit expandierte und gleichzeitig sein Leben kaputtmachte/-ging.

Mit guten Gründen also halten Ronald Reagan, Paul McCartney, Paddy McAloon, Genesis P. Orridge, Elton John, Charles Manson und Detlef Diederichsen die Beach Boys für einen nationalen oder sonstwie Schatz.

Im vergangenen Sommer – wann, wenn nicht im Sommer? – sind zwei umfangreiche Dokumente erschienen, die den Ruf der Beach Boys als schaurig schillerndes Denkmal der US-Kulturindustrie bestätigen. Die Bandbreite des Beach-Boys-Dramas spiegelt sich bereits in den Titeln: „Mein kalifornischer Alptraum“ nennt Brian Wilson seine Autobiographie, während die Plattenfirma es begreiflicherweise vorzieht, die Fünf-CD-Box „Good Vibrations“ zu taufen.

Buch wie Box helfen, die Geschichte vor allem der sechziger Jahre, wenn schon nicht neu zu schreiben (Wilson ist nicht Hitler), so aber doch in einem anderen Licht zu sehen und die „reaganschen“ beziehungsweise „mansonschen“ Reduktionen zu überwinden.

Gebrauchsgegenstand „Beach-Boys-Hit“

Dies kann nur, wer sich der Mühe unterzieht, die Musik der Beach Boys tatsächlich zu hören – was so leicht nicht ist. Denn die Hits der Beach Boys haben längst die Gestalt einer zweiten Natur angenommen, sie gehören zum Inventar unseres Unbewußten wie sonst nur die Songs der Beatles. „Good Vibrations“, „Sloop John B.“ und „I get around“ – niemand käme auf die Idee, daß diese akustischen Tapeten des 20. Jahrhunderts irgendwann einmal von Menschenhand hergestellt wurden.

Wurden sie aber, und wie! Davon legt das eigentliche Glanzstück der „Good Vibrations“-Box Zeugnis ab. Die „provisorisch“, „Verfolge den Prozeß“-mäßig in graue Pappe gepackte Bonus-CD mit der handgekritzelten Aufschrift „Sessions“ dokumentiert in epischer Breite und Tiefe den zähen, faszinierenden Produktionsprozeß des Gebrauchsgegenstandes „Beach- Boys-Hit“. Eine geschlagene, viel zu kurze Viertelstunde darf man mit im Studio hocken und verfolgen, wie hart an der All Time Greatest Pop Single gearbeitet wurde: „Good Vibrations“, dieses glatte, glänzende Stück Oberfläche zerfällt plötzlich in so triviale Details wie „Fender-Bass“, „Organ“ oder „Maultrommel“. Eine dünne Stimme, die Brian Wilson gehören muß, gibt Kommandos. Und ich dachte immer, die Platte sei vom Himmel gefallen beziehungsweise an einem himmlischen Fließband entstanden.

Überhaupt Fließband! Bis zum heutigen Tag legitimiert sich dröger Rockismus mit dem konstruierten Antagonismus Fließband- Pop versus Autoren-Rock. Bekennende Rockisten verteufeln Institute wie das Brill Building am Broadway als Pentagon des industriellen Pop. In dieser Songwriting- Fabrik widmeten sich in den Fünfzigern und Sechzigern tagtäglich vornamenlose Komponisten-Texter-Paare wie Goffin/King oder Mann/Weil dem strapaziösen Beruf „Hits schreiben“. Potentielle Hits wurden dann von Produzenten-Regisseuren (wie Brian Wilsons Idol und Erzrivale Phil Spector) mit einer Armee von Marionetten, die mal The Crystals, mal The Ronettes oder auch mal Ike & Tina Turner heißen durften, zu richtigen Hits dirigiert1. Diese Hitsingles behandelten im Unterschied zum „Autoren“-Hippie- Rock der späteren Sechziger nicht mehr als „Be my Baby Baby I love you You've lost that loving feeling“ – dies jedoch in makelloser Perfektion2.

Vom Fließband- arbeiter zum Autor

Als die Beach Boys anfingen, kannte man Pop nicht anders. Songwriter-Fabriken, Fremd-Produzenten und Sängermarionetten waren Stand der Dinge. Diesen Produktionsbedingungen hatten sich die Teenager-Brüder Brian, Dennis und Carl Wilson, ihr Vetter Mike Love und Schulfreund Al Jardine selbstverständlich zu unterwerfen.

Unter Anleitung ihres despotischen und fanatisch ehrgeizigen Vaters, der sein eigenes musikalisches Scheitern mit dem Erfolg seiner Söhne kompensieren wollte, fanden die Jungs die Surfbrett-Erfolgsformel. Wellenreithit folgte auf Wellenreitwelthit, und so wär's weitergegangen bis zur nächsten Mode – nach den geltenden Gesetzen des Staates Pop.

Doch statt dessen geschah etwas Unerhörtes, das nur kapiert, wer sich den corporate Stand der Dinge

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Fortsetzung

1963 vor Augen führt. Beach Boy Brian Wilson ließ Formel Formel sein und mutierte zunächst langsam, später beschleunigt durch Marihuana, Phil Spector, LSD, Speed und die Beatles vom Fließbandarbeiter zum Autoren. Wer Buch und Box parallel verarbeitet, kommt zu der erstaunlichen Erkenntnis, daß ausgerechnet die Surf-Retorten-Combo „The Beach Boys“, die nicht einmal ihren Namen selbst wählen durfte (ursprünglich nannten sie sich nach einer damaligen Ami-Freizeithemden-Mode „The Pendletones“, aber das kam frühen Jugendkultur-Sachwaltern in der näheren Umgebung der Band zu eigenwillig-verspielt vor), daß ausgerechnet diese biedere Familienband bereits Anfang der Sechziger autobiographische, literarische Popmusik produzierte.

Buch und Box dokumentieren den plötzlichen Erfolg der Beach Boys und die daraus resultierenden rasanten Erosionserscheinungen. Brian Wilson stand als Autor, Musiker, Produzent – als Gehirn der Beach Boys – unter einem buchstäblich irrsinnigen Druck. Praktisch im Alleingang mußte er bis zu drei LPs pro Jahr (!) vorlegen.

There's a place...

Erste Konsequenz war Brians Rückzug aus dem Tourgeschäft. Die Band bereiste ohne ihn die Welt, Brian flüchtete sich ins Studio, wie er sich später in sein Zimmer, sein Bett und schließlich seinen Schrank flüchtete – und in Drogen aller Art.

„In dieser Zeit [1962; d.Red.] schrieben wir durchschnittlich einen Song pro Tag. Der nächste kreative Triumph gelang uns mit ,In my room‘. Gary [Usher, Brians damaliger Co-Autor; KW] hatte schnell erkannt, daß das Musikzimmer für mich eine Art Zuflucht war. Es wollte ihm nie in den Kopf, daß ich sogar dort schlief, direkt neben meinem Klavier.“ So klimperten sie vor sich hin, „und Gary sang einen Text dazu: ,Theres a place where I can go and tell my secrets to, in my room...‘“

Nicht zu Unrecht wird dieser Song des zwanzigjährigen Brian Wilson, von dem es eine gespenstische deutschsprachige Version gibt („Ganz allein“ [!], erschienen auf „Beach Boys Rarities“, EMI), gern als Schlüssel zu Leben und Werk der Beach Boys gelesen. (Irgendwer bezeichnete später „In my room“ als archetypischen Smiths-Song. Auch nicht verkehrt, bis auf die Tatsache, daß Morrissey wahrscheinlich seine Oscar-Wilde- Gesamtausgabe dafür hergeben würde.)

Im Sand spielen

Die „Good Vibrations“-CD-Box enthält etliche Songs, die bisher nicht oder nur auf Bootlegs zu kriegen waren. Insbesondere die sagenumwobenen Aufnahmen für die niemals erschienene „Smile“- LP stellen einen erstklassigen Abenteuerspielplatz für Hobby- Analytiker dar. Titel wie „I love to say da da“ oder „Do you like worms“ brachten in ihrer kindlich- eskapistischen Erdabgewandtheit nicht nur Wilsons republikanisch- geldgeilen, straighten Vetter Mike Love zur Verzweiflung.

Mit „Smile“ wollte Brian 1966 das endgültige Pop-Kunstwerk schaffen, den Triumph seines Meisterwerkes „Pet Sounds“ überbieten und zudem den Wettlauf mit den Beatles, die zeitgleich an „Sgt. Pepper“ arbeiteten, gewinnen. Für den Song „Vegetables“ ließ er Berge von Gemüse ins Studio karren, für den Song „Fire“ setzte er einem ganzen Orchester rote Feuerwehrhelme auf – tags darauf brannten in der Umgebung mehrere Häuser. Um sein Klavier ließ Wilson einen Holzkasten bauen, den er mit Sand auffüllte: „Ich will im Sand spielen.“ Brian Wilson entfernte sich vom Mainstream – er wurde verrückt.

Solche Strecken durchlebten in den Mittsechzigern viele – mit einem entscheidenden Unterschied: Wilson entfernte sich einsam und allein.

Seine „Experimente“ waren nicht Resultat irgendeiner „Emanzipation“, sie waren nicht durch einen gegenkulturellen Kontext abgefedert, nicht einmal durch den Bandzusammenhang (denn einen solchen gab es nicht). Wilson mutierte zum eskapistischen, kontextlosen Irren innerhalb eines nach wie vor grausam intakten familiären Terrorzusammenhangs. Er stopfte in sich hinein, was er kriegen konnte: Junkfood, Kaffee, Alkohol, Pot, Koks, Heroin, bis er ein fettes, bewegungsunfähiges Ungeheuer wurde. Und seine Family „pflegte“ ihn beinahe zu Tode.

Der Idiot der Familie

With a little help von Eugene Landy, I presume – dem Psychiater, unter dessen Kontrolle er seit über zehn Jahren weitergelebt wird –, beschreibt Wilson in seinem „kalifornischen Alptraum“ diese Leidensjahre mit der buchhalterischen Akribie eines Zerstörten, der aus Versehen überlebt hat. Nein, zur ostentativen Pop-Irren-Lichtgestalt taugt der alte Beach Boy nicht, und er wirft auch keinen Psychopathen-&-Junkie- Glamour ab. Wilson ist bestenfalls der Idiot der Familie. Er kommt aus einem stocknormalen WASP- Haus mit einem allerdings übernormal tyrannischen Vater, der sich schon mal splitternackt auf den Küchentisch stellte, tarzanesk vor die Brust klopfte und verkündete: „Ich bin der König dieser Familie.“ Ein Despot, der seinen heranwachsenden Sohn Brian zwingt, unter Mamas Augen auf den Küchenboden zu scheißen. Überhaupt spielte das Essen in der Wilson-Familie eine besondere Rolle: „Von unserer Mom noch mehr verhätschelt als Dennis und ich, war das Essen Carls großes Laster geworden, es spendete ihm die Zärtlichkeit, die Mom ihm anders nicht geben konnte.“

Die Zärtlichkeit des Fressens sollte auch dem erwachsenen Brian nicht fremd bleiben. Als er nach einem Nervenzusammenbruch vorzeitig von einer Tournee zurückkehrt, läßt sich Brian von Mom ins Haus seiner Kindheit fahren. Dort soll sie ihm seine heißgeliebten weichgekochten Eier zubereiten.

Die Tragödie des Brian Wilson besteht darin, daß er sich Zeit seines Lebens nicht von dem Modell „Family“ emanzipieren konnte, weil es keinen „gegenkulturellen“ Ersatz für ihn gab. Schließlich konnte sich der biedere Beach Boy nicht so mir nichts dir nichts in der entstehenden Hippie-Szene einnisten. So wurde er weitergereicht: von der Kleinfamilie in die Family- Band und in die Ehe mit Marylin; mit Marylins Schwestern Barbara und Diane hatte er Liebesbeziehungen; später entstanden großfamilienartige Versorgungsgemeinschaften, die sich um Brians (Über)Leben kümmerten – bis hin zur psychiatrischen Family des Dr. Landy.

Damit nicht genug: Vor einigen Jahren gründeten Brians Töchter Wendy und Carnie mit Chynna Phillips die Gruppe Wilson Phillips. Chynna ist die Tochter von John Phillips von den, äh, Mamas & Papas (Wo bleibt die psychosemantische und ernährungswissenschaftliche Analyse der Families Man-SON, Jack-SON und Wil- SON? Können so viele Söhne Zufall sein?).

Sea of Tunes...

...nannten die Wilsons ihren Verlag. Ein Meer von Songs, die von heute – post Fiasko – als Hilferufe eines über die Pubertät nie hinausgekommenen musikalischen Genies gelesen werden können. Ein paar Beispiele als Epilog:

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Fortsetzung

I just wasn't made for these times: „Der Teil von mir, der sich mit Musik beschäftigte, war sehr viel reifer, als es meinem Alter entsprach“, schreibt Wilson und vergißt hinzuzufügen, daß für den Rest seines Lebens der Teil von ihm, der sich nicht mit Musik beschäftigte , weitaus unreifer blieb, als es seinem Alter entsprach. Oder: Wilsons Musik war größer als das Bewußtsein ihres Schöpfers; was schlicht daran liegt, daß sie einem übermächtigen Unbewußten entspringt. „Ich spiele, was ich in mir höre.“

Hang on to your ego: „I know so many people, who think they can do it alone, they isolate their heads and stay in their safety zone, they trip through the day and hang on their thoughts at night...“ – Auf Intervention von Mike Love mußte der Text neu geschrieben werden. Die „Pet Sounds“-Version heißt „I know there's an answer“.

I went to sleep: „Mittlerweile war ich mit meinem Bett aus meinem Schlafzimmer ins Musikzimmer umgezogen und schlief nun direkt neben meinem Instrument. So konnte ich spielen, bis mir die Augen zufielen und mich dann direkt ins Bett plumpsen lassen.“

H.E.L.P. is on it's way: Was ist bloß aus meiner Figur geworden? Tragikomischer Text über die Auswirkungen von Süßigkeiten und Junk-Food, imaginärer Soundtrack zum Wilson-Diät-Video: Wilson 1961: 1,91, 84 Kilo; Wilson 1968: 130 Kilo; Wilson 1982: 160 Kilo, Wilson 1987 unter hundert...

Und andere versteckte Signale: Time to get alone, Busy doin' nothin, When I grow up to be a man, what will be?

The Beach Boys: „Good Vibrations“. Fünf CDs plus Bonus-CD, EMI.

Brian Wilson: „Mein kalifornischer Alptraum“, übersetzt von Clara Drechsler, VGS-Verlag 1993, 412 Seiten, 48DM.

1 Ironie der Geschichte: Im Brill Building lernte auch Lou Reed sein Songwriter-Handwerk, jener Lou, von dem du immer dachtest, der intuitive Haß auf Corporate Pop habe ihn zu Velvet Undergrounds treibender Kraft getrieben. Auch, aber nicht nur...

2 Ironie der Geschichte: Ausgerechnet jene Carole King produzierte mit „Tapestry“ Anfang der Siebziger eine der erfolgreichsten Singer/Songwriter-, also Introspektions-Pop- Platten, gerade so, als hätte sie all den Fließbandschrott auf den Kopf gestellt; dabei hat sie bloß ihre Fähigkeiten ihrem Reifeprozeß und den Marktbedingungen angepaßt.