Leben im Niemandsland

Der Potsdamer Platz in Berlin ist die teuerste Ödnis Deutschlands / Die Schrottkunst der „Mutoid Waste Company“ und die Techno-Gurus des „Spiral Tribe“ im Todesstreifen  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Am Potsdamer Platz wirbelt der Wind den Sand auf. Er knirscht zwischen den Zähnen, dringt in die Kleidung, es gibt kein Versteck, und kalt ist es auch. „Heute ist ein lausiger Tag“, sagt Nick, „es kommen keine Touristen.“ Der junge Mann ist auf sie angewiesen. Kommen keine Touristen, muß er am Abend hungrig bleiben. Und nicht nur er, sondern sechs weitere Erwachsene auch. Die ganze englische Schrottkünstlergruppe „Mutoid Waste Company“.

Am besten geht das Geschäft, sagt Nick, wenn nebenan, auf dem Brachland des Potsdamer Platzes, ein Großereignis stattfindet. Zirkus Krone zum Beispiel oder das Bungee Jumping vom hundert Meter hohen Kran oder, wie im Sommer, das größte Mittelalterspektakel Deutschlands. Ihre Attraktion, der „Mauerpark“, steht mitten auf dem ehemaligen Todesstreifen, eingepfercht zwischen hundertzwanzig Meter Mauer und der Mitte November eröffnenden neuen U-Bahn. Dem einzigen Fleck mit ungeklärten Eigentumsansprüchen, auf dem sonst an Investoren komplett verteilten Potsdamer Platz.

„Wir sind die ständige Vertretung im Niemandsland“, sagt Nick, der einzige Deutsche der Truppe und seit 1991 dabei. Die restliche Crew ist schon seit zehn Jahren zusammen, kam aber erst kurz vor dem Mauerfall nach Berlin. Hier und weil die Mauer plötzlich löchrig und die Zustände im Osten unübersichtlich wurden, gelang ihnen ihr bisher größter Coup. Eines Tages hatten sie plötzlich zwei MiGs21, zwei sowjetische Jagdflugzeuge, deren Verschwinden aus einer Kaserne bei Straußberg für Riesenaufregung sorgte.

Ein halbes Jahr später tauchten diese MiGs auf einer Schrott-Performance und bunt bemalt auf einem anderen Todesstreifen, dem Spreebogen, wieder auf. Mit den Schnäbeln im Sand, wie Vögel eben. „Wir haben die Symbole der Massenvernichtung zu ,Peace Birds‘ mutiert“, sagt Künstler Joe mit einem Grinsen. „Sie sind aus der Asche des Kalten Krieges auferstanden, zu Symbolen von Hoffnung und Harmonie.“ Joe sagt das natürlich auf englisch, denn außer „Schrottplatz“, „Dieselöl“ und noch ein paar Worten aus dem Lexikon des Kraftfahrzeugwesens spricht er kein Wort Deutsch. Auch die anderen nicht. Zum Übersetzen und zum Verhandeln mit den Behörden ist Nick da. Der ist inzwischen völlig zweisprachig und flucht auf englisch wie ein alter Dockarbeiter.

Die beiden MiGs gaben der Gruppe 1990 auch einen neuen Namen. Jetzt sind sie der „Lost Tribe of MiG“, kurz L.T.M. Und die MiGs stehen jetzt, nachdem sie den Spreebogen und ein kurzes Gastspiel direkt vor dem Reichstagsgebäude überstanden haben, 500 Meter weiter im Niemandsland. Im Mauerpark ist die „friedlichere“ von beiden zu besichtigen. Die andere MiG steht gegenüber, am Rande der ältesten Wagenburg von Berlin, verdeckt mit einer Plane, damit die Touristen nicht immer durch das Rollheimner Dorf laufen, sondern zum Mauerpark kommen und „donations abdrücken“.

Richtig Eintritt darf die Gruppe nicht verlangen, das wäre dann ein Gewerbe. Aber gegen donations kann niemand etwas haben, meint Frank, der Veteran unter den Künstlern und früher einmal Roadie bei den Rolling Stones. An guten Sommertagen klimperten manchmal zweihundert Mark in der Kasse, aber jetzt im Herbst ist man über dreißig Mark schon froh.

„Gestern war ein Festtag“, erzählt Nick. Da kam ein Fotografenteam mit einigen Models. Die armen Mädchen seien mit der Sommermode von 1994 zitternd auf der MiG herumgeklettert, aber sie hätten wenigstens einen „Fuffi“ in die Hand bekommen. Neben der MiG wird auch der „rosarote Panzer“ gerne fotografiert. Er lehnt wie eine dicke Schildkröte an der buntbemalten Todesmauer, das Schießrohr in den Himmel gestreckt. Demnächst soll er „singen“, statt Bomben und Granaten soll aus dem Rohr selbstgemachte Sphärenmusik erklingen.

Die Gruppe besaß bis vor zwei Wochen eine ganzes Panzerarrangement, zusammengeschweißt zu einem Stonehenge, damit es dem kultischen Vorbild in England ähnelte. Das schrille, neonfarbene Kunstwerk stand fast zwei Jahre lang ebenfalls auf dem Spreebogen, und jeder, der mit der S-Bahn da langfuhr, konnte sie sehen. Aber weil der Spreebogen bald mit Wohnungen für Bundesbedienstete zugebaut wird, kam im Auftrag der Bezirksverwaltung von Berlin-Mitte ein professionelles Demontageunternehmen und räumte die Schrottkunst weg.

Frank und die viele Jahre jüngere Freundin Tampsin leben stilgerecht direkt neben Panzer, MiG, dem „Geier auf Kaktus“ und dem „glücklichen Adler“, in einem Robur mit ausklappbarem Koffer. Fachleute wissen genau, das ist ein „Schmetterlings-Robur“, einer der beliebtesten NVA-Geländewagen der alten Zeit.

Ralf, Matthew und Joe wohnen ebenfalls in ausrangierten Militärwagen, nur Nick gegenüber bei den Rollheimern, in einem alten Magirus. Aber er kommt jeden Tag zum „Projekt“, arbeitet an seinen Vögeln aus Metall. Vor kurzem hat er eine Ente, komplett aus Kriegsgerät zusammengeschweißt, für 350 Mark an einen Historiker aus Erlangen verkauft. Der war fasziniert von dieser Kunst, die „nur in dem Vakuum von Alt und Neu möglich ist“. Jetzt werkeln Joe und Nick an neuen Peace Birds aus Militäruntensilien, denn „in Vögeln sind wir groß“.

Begeistert zeigte sich neulich auch ein Hollywood-Regisseur, der in Berlin auf der Jagd nach Ideen war. Lost Tribe of MiG seien das „schrillste, was derzeit in der Stadt zu finden ist“, sagte er. Aber dann legte er nur 20 Mark in die Kasse. Und das reichte gerade für den Salat zum Abendessen. Gekocht wird auf offenem Feuer und unter freiem Himmel, in Blickweite des Preußischen Landtages und des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums, wo die Treuhand den Osten abwickelt.

Jetzt hat L.T.M. noch Brennholz für Jahre, ein Geschenk der „Mittelalter-Freaks“. Weil diese nach ihrem Spektakel im Sommer Schwierigkeiten hatten, ihr ganzes Dorf aus Fichtenstämmen termingerecht abzubauen – schließlich hatten sie zunftgemäß nur Maulesel und Knechte –, bekam Lost Tribe of MiG den ganzen Segen. Die kamen mit ihrer High-Technology, und ruck, zuck schafften sie das ganze Holz in zwei Stunden weg.

Der Potsdamer Platz, die teuerste Ödnis Deutschlands und ab Frühjahr die größte Baustelle Europas, inspiriert und fasziniert die Anarcho-Künstler. Aber Endstation soll es nicht sein. Zwar wird die Klärung der ungeklärten Eigentumsansprüche ihres Fleckchens noch einige Jahre dauern, aber dann würden sie eingezingelt sein von den Kathedralen des großen Geldes. Daimler-Benz hat schräg gegenüber Anfang Oktober den ersten symbolischen Spatenstich gesetzt, der Elektronikmulti Sony plant, ihre denkmalgeschützte Lieblingstoilette abzureißen. Die befindet sich im alten Grandhotel Esplanade. Irgendwann werden auch die anderen Großinteressenten, Hertie und Asea Brown Boveri (ABB), ihre Kaufverhandlungen mit dem Senat abschließen, und die Bauverwaltung wird sich an die Rekonstruktion des alten Oktogon am Leipziger Platz machen. Dann könnte es eng für die Mutoid Waste Company und ihr Leben auf dem „Niemandsland“ werden.

Und deshalb plant die Truppe ein neues Projekt. Sie will mit ihren MiGs, dem Panzer, den vielen Friedensvögeln und den Schrottrobotern nach Rußland. Dorthin, woher der zu Kunst mutierte Schrott stammt. In St. Petersburg möchten sie eine große Performance inszenieren.

Im Sommer 1994 sollte es eigentlich losgehen, aber dann kamen im August schlechte Nachrichten aus Rußland. Die Mafia hat die Partner, eine Video-Corporation, „hochgejagt“, weil sie keine Schutzgelder bezahlen wollte. Die Realisierung könnte also schwieriger als gedacht werden.

Naheliegender ist es deshalb, sich auf das nächste Projekt zu konzentrieren. Zu Silvester sollen die Waste-Artists eine Show in einem alternativen Kunst- und Kulturhaus veranstalten. Und die Favoriten für die Musik sind schon seit drei Wochen da. Das ist auch ein verlorener Stamm, auch aus England, und sie heißen „Spiral Tribe“ und wohnen ebenfalls in Lastwagen auf dem Potsdamer Platz. Genau dort, wo Daimler hinwill.

Sie sind hier sozusagen im Exil, denn zu Hause läuft gegen sie ein Verfahren. Spiral Tribe sind die Gurus des Techno-Sounds und haben mit ihrer letzten Party in einem kleinen Dorf die englische Geduld überstrapaziert. Über 40.000 Fans hatten sich auf den umliegenden Feldern des Ortes versammelt, zertrampelten Weiden und Getreide und erschreckten mit 15.000 Dezibel einige Schafe zu Tode.

Die englische Justiz ermittelt jetzt aber nicht wegen Umweltzerstörung und Tierquälerei, sondern hat ein Verfahren wegen „Hochverrats“ gegen die Musiker angestrengt. Die Techno-Gurus sollen eine „konspirative Vereinigung“ sein, darauf steht „lebenslänglich“, behauptet Marc. Und deshalb kamen die 30 People mitsamt ihrer 15.000-Dezibel-PA in die „Freiheit“ nach Berlin.

Hier angekommen, machten sie schon weidlich Bekanntschaft mit der Polizei. Denn in der Techno- Szene hatte es sich blitzschnell rumgesprochen, daß die Jungs da sind. Am vergangenen Wochenende veranstalteten sie eine Party in einem besetzten Haus im Bezirk Friedrichshain. Gegen Mitternacht stürmten etwa 150 „Bullen“ das Haus, beendeten die Party abrupt, beschlagnahmten die Power-Anlage. Dabei hätten sie „ganz leise“ gespielt, behauptet Marc, bei voller Power wäre der halbe Bezirk zusammengefallen.

Für die Silvester-Party hätten sie ein besonderes Bonbon parat. Denn Mitte Oktober, als der Bellevue-Tower am Potsdamer Platz in einer gewaltigen Explosion gesprengt wurde, haben sie den großen Bang und das anschließende Donnern des zusammengestürzten Hochhauses auf Band aufgenommen. Das ist die Basis eines neuen Labels und wird vermutlich demnächst in den Techno-Bunker- Dauerpartys zu hören sein.

„Früher lebten wir in der Steinzeit, später mit Jimi Hendrix im Peace-and-love-Taumel und jetzt im apokalyptischen Endstadium der High-Technologie.“ „Das ist Techno“, sagt Marc. „Und ich lebe im Niemandsland“, sagt der Reggaefan Nick und trollt sich zu seiner L.T.M. Vielleicht kommt ja doch noch ein Tourist in dieser modernen Eiszeit.