■ Jelzin und die Bodenreform in Rußland: Gerechtigkeit, Freiheit und Boden
Mit seinem Dekret über das Eigentumsrecht an Boden hat der russische Präsident Boris Jelzin den entscheidenden Schritt in Richtung Kapitalismus vollzogen. Noch mehr als das auch in Rußland inzwischen mögliche Eigentumsrecht an Ladengeschäften, Wohnungen und Produktionsstätten trennt die Verfügungsgewalt über den Boden eine Gesellschaft in Eigentümer und Habenichtse, in Reiche und Arme oder in die Klassen der Kapitalisten und der Arbeiter.
Wohl in keinem Land Europas weckt die Frage der Verfügungsgewalt über Boden geschichtsbedingt heftigere Emotionen als in Rußland: Waren doch bis 1861 bald 90 Prozent der Russen Leibeigene, deren Enkel und Urenkel dann unter Stalin das andere Extrem, die Zwangskollektivierung, erlitten. Mit dem Bodenrecht eng verknüpft ist daher die Frage nach Gerechtigkeit – aber auch die nach Freiheit.
Die Transformation der Wirtschaft zum Markt geht auch in Rußland mit einer Ausdifferenzierung (oder negativ: Desintegration) der Gesellschaft einher. Obwohl es neben den neuen Reichen heute auch neue Arme gibt, hat dennoch die Mehrheit der Bevölkerung, zuletzt im April-Referendum, diesen Reformen immer wieder im Grundsatz zugestimmt. Die wenigsten Vorteile von den neuen Freiheiten hatte bislang die Landbevölkerung, die deshalb den Veränderungen kritischer gegenübersteht als die Städter.
Daß Jelzin nun vor den Wahlen den Kolchosbauern das Land, das sie bestellen, schenkt, wird ihm von seinen Gegnern als Wahlkampftaktik vorgeworfen werden – nicht ganz zu Unrecht. Das Argument allein reicht allerdings nicht, Jelzins Handeln als verwerflich abzutun. Schon für die Versorgung der Bevölkerung mit bezahlbaren Nahrungsmitteln ist eine Landreform überfällig. Das Dekret bemüht sich ganz klar, den Boden so gerecht wie möglich unter der Landbevölkerung aufzuteilen. Jelzin drängt nicht einmal, wie in der Ex-DDR verfügt, nach schneller Entflechtung der Kolchosen und Sowchosen, sondern überläßt den Bauern die Entscheidung.
Durch die Verfügungsgewalt über den Boden versetzt Jelzin die Landbevölkerung erst in die Lage, überhaupt wirtschaften zu können: Indem Land verkauft und auch beliehen werden kann, gibt es jetzt erstmals für die Bauern die Möglichkeit, an Kapital für Investitionen zu kommen: für neue Kühlhäuser, Lagerstätten und Transportmittel, damit die erzeugten Güter nicht länger auf dem Weg zum Verbraucher verderben. Die Möglichkeiten des „Ausverkaufs“ sind dabei durch das Verbot des Verkaufs an Ausländer begrenzt. Damit allerdings auch die Chancen auf große Investitionen – vorerst. Donata Riedel
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