Gute Nachbarn – doch keine Freunde

■ Ein Jahr nach der Teilung feiert Prag den 75. Jahrestag der Gründung der ČSFR

Prag (taz) – Václav Havel legt zu Füßen des Heiligen Václav auf dem Prager Wenzelsplatz einen Kranz zum Gedenken an die Entstehung der ČSFR im Jahre 1918 nieder. Eine Hundertschaft Polizisten bietet dem Präsidenten Schutz. Gerade hat Havel die Statue seines Namensvetters verlassen, da schmettern die Anhänger der Republikanischen Partei ihre Parolen. „Ausländer raus“, brüllt ein Mann und fordert im gleichen Atemzug die „Einführung der Todesstrafe“. Etwa 1.000 Anhänger der revanchistischen Partei jubeln ihm zu. Am Rednerpult läßt sich der tschechische Schönhuber, Miroslav Sládek, feiern. Er genießt, in welch beschämender wie plakativer Art und Weise auf der von ihm initiierten Domonstration gegen Havel Hatz gemacht wird. Doch die ebenfalls anwesende Fangemeinde des Präsidenten läßt sich nicht unterkriegen. „Es lebe Havel“ skandieren Tausende.

Die Feier der Entstehung der selbständigen tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918 gehörte stets zu den kontroversen Augenblicken der tschechischen Geschichte: Da die Bedeutung unter den Kommunisten – aber auch während der deutschen Okkupation – bewußt heruntergespielt wurde, waren die an diesem Tag stattfindenden inoffiziellen Demonstrationen stets auch Ausdruck des Widerstands gegen das herrschende System. In diesem Jahr jedoch sorgten nicht nur die Republikaner für Streit. Auch die oppositionellen tschechischen Sozialdemokraten nutzten die Nostalgie über die verschwundene ČSFR als Kampagne gegen Regierung und Präsident.

Im Jahr 75 nach der Staatsgründung und im Jahr eins nach der Auflösung der ČSFR stellt sich für Prager Zeitungskommentatoren vor allem die Frage, wie das Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken heute aussieht. „Mehr geteilt als in der modernen Geschichte jemals zuvor“ und „Gute Nachbarn, aber keine Freunde“ – so lautet ihr Grundtenor.

Historiker aus Prag und Bratislava wollen diese Einstellung nicht ganz teilen. „Oberflächlich betrachtet mag das sein“, erklärt Professor Otto Urban während eines Symposiums auf der Prager Burg gegenüber der taz. Die jungen Republiken entwickelten sich politisch zwar sehr unterschiedlich, doch das sei für persönliche Beziehungen zwischen Tschechen und Slowaken nicht gravierend. Entschieden wendet sich Urban auch gegen das von der westlichen Presse oft gezeichnete Bild der „Ausländer im eigenen Land“: „Die etwa 300.000 Slowaken in der tschechischen Republik stellen keine historisch gewachsene Minderheit dar“, sagt Urban, „sie werden sich ,tschechisieren‘.“

In der Slowakei leben dagegen nur etwa 30.000 Tschechen. Deren Kontakte zu Slowaken sind nach Aussage von Professor Dr. Dušan Kovać, Historiker der Akademie der Wissenschaft in Bratislava, „besser als vor der Teilung“. Schließlich seien sich die Sprachen nah; Diskussionen über Schuldzuweisungen im Hinblick auf die Auflösung der ČSFR ließen nach.

Das alles klingt gut. Große Probleme – so die Wissenschaftler unisono – gebe es jedoch im kulturellen Bereich. In der Slowakei ist es sehr schwer, tschechische Zeitungen und Bücher zu bekommen. Der Grund: Im Januar 1993 schrieb der slowakische Kulturminister Dušan Slobodnik seinem tschechischen Kollegen Jindřich Kabat einen Brief. Inhalt: „Kündigung“ kultureller Wechselbeziehungen. Slobodnik, dessen Mitgliedschaft in der faschistischen Hlinka-Jugend zur Zeit des selbständigen slowakischen Staates (1939–1945) nun gerichtlich erwiesen wurde, ist es auch zu „verdanken“, daß das Haus der Slowakischen Kultur in Prag Ende dieses Jahres seine Pforten schließt.

Die Zeitung Mosty (Brücken) möchte das kulturelle Vakuum zwischen den beiden Staaten schließen. Namhafte tschechische und slowakische Künstler wie beispielsweise der Prager Schriftsteller Ivan Klima kommen in dem Alternativblatt zu Wort. „Im Gegensatz zu tschechischen und slowakischen Tageszeitungen behandeln wir die Republiken mit mehr Achtung“, sagt Chefredakteurin Sona Čechová. Gerade in Tschechien werde über die Slowakei nur noch geschrieben, wenn es Komplikationen und Skandale gebe.

Die politische Kluft zwischen Prag und Bratislava bleibt. Daran ändern auch die Aufrufe Intellektueller nichts, die die Förderung eines freundschaftlichen Verhältnisses „zum nächsten Verwandten und Nachbarn“ fordern. Verbessern würden sich die Beziehungen nach Ansicht von Mlada fronta dnes nur dann, wenn dem linksorientierten slowakischen Premier Mečiar ein entsprechender tschechischer Partner oder dem rechtsorientierten tschechischen Premier Klaus ein entsprechender slowakischer Partner gegenüberstände. Dennoch sind die beiden Historiker optimistisch. Dušan Kovač „glaubt sogar, daß sich die Voraussetzungen für die tschecho- slowakischen Beziehungen heute besser gestalten lassen, weil historische Belastungen wegfallen“. Tomas Niederberghaus