Jelzin löst Kolchosen auf

Rußlands Präsident verpaßt dem Land eine Bodenreform: Bauern sollen Grundstücke besitzen, verkaufen oder verpachten können  ■ Aus Moskau Boris Schumatsky

Erstmals seit über siebzig Jahren ist in Rußland privater Landbesitz wieder offiziell erlaubt. Boris Jelzin unterzeichnete gestern ein Dekret, das den freien Kauf und Verkauf von Grundstücken ermöglicht. Damit wurde in Rußland ein weiterer Schritt in Richtung Marktwirtschaft vollzogen.

„Russische Staatsbürger erhalten reale Vermögensrechte auf den Grund und Boden“, so der Leiter des Agrarressorts der Regierung Alexander Kalinin. Im Gegensatz zum laufenden Privatisierungsprogramm werden die Grundstücke ausschließlich unter der Landbevölkerung verteilt. Die Grundstücke dürfen verkauft, verpachtet, umgetauscht und vererbt werden. Es gibt freilich zwei Begrenzungen: Die Landwirtschaftsgrundstücke dürfen nur für die Agrarproduktion benutzt werden. Das Auslandskapital erhält kein Recht auf Grundbesitz, darf aber die Grundstücke pachten.

Das Dekret über „die Regelung der agrarischen Vermögensverhältnisse und die Entwicklung der Bodenreform“ soll dem ineffektiven Kolchosen-System ein Ende setzen. Dank diesem System steckt Rußland dauernd in einer Ernährungskrise, und die Arbeitsproduktivität im Agrarsektor ist 15- bis 20mal niedriger als im Westen.

Jelzins Ukas ist nicht nur eine bedeutsame wirtschaftliche Maßnahme. Er ist eine politische Aktion von historischem Ausmaß. Selbst bei der Perestroika setzten die Reformgegner stets auf die Direktoren der Kolchosen. Der Leader der sowjetischen Agrarlobby, Wassilij Starodubzew, war Juntamitglied während des Augustputsches vor zwei Jahren. Jetzt ist er unter den Gegnern Jelzins.

Der Präsident nutzt seine provisorischen legislativen Vollmachten für einen vernichtenden Schlag gegen seine Rivalen. Einerseits ist es ein cleverer Schritt in seiner Wahlkampagne: Boris Jelzin erfüllt den tausendjährigen Traum seiner Wähler auf dem Lande vom eigenen Grund und Boden. Man vergleicht seinen Ukas mit dem berühmten „Dekret über den Grundund Boden“, das Lenin wenige Stunden nach der Machtübernahme verabschiedete und das ihm die Unterstützung der Bauern garantierte. Andererseits räumt Jelzin eines der größten Hindernisse aus dem Weg der Reform. Er vernichtet ein Überbleibsel der sowjetischen Vergangenheit, das in der russischen Geschichte tief verwurzelte Kolchosen-System.

Die Grundlage der sozialen Organisation im Agrarland Rußland bildete die sogenannte Obschtschina, die Bauerngemeinde. Die Obschtschina war die größte konservative Kraft in der russischen Geschichte. Seit der ersten Reform von Peter dem Großen hemmte sie alle Impulse der Europäisierung Rußlands; nach der Revolution prägte sie die entstehende Sowjetmacht. Den privaten Grundbesitz hatte noch vor drei Jahren der Kongreß der Volksdeputierten der Russischen Föderation durch eine Verfassungsänderung erlaubt. Doch es war nicht mehr als eine Deklaration. Der Austritt aus dem Kolchos wurde an praktisch unerfüllbare Bedingungen gebunden.

Boris Jelzin dagegen geht in seinem Ukas keine Kompromisse mit den Kolchosendirektoren aus der „Agrarunion“ von Starodubzew ein. Zum ersten Mal in der russischen Geschichte bekommt der Bauer eine Urkunde, die seine Eigentumsrechte auf den bestimmten Anteil des Kolchos-Vermögens bestätigt. Der nächste Schritt: Gegen diese Anteile wird das Eigentum aller Kolchosen versteigert. Erst danach wird der Bauer rechtmäßig Besitzer eines konkreten Grundstücks und des von ihm erworbenen Teils der Landmaschinen und Ausrüstung.

Die Grundstücke werden nicht direkt verteilt, um die Interessen jener beträchtlichen Gruppe der Landbevölkerung zu berücksichtigen, die „mit der Bodenreform nichts zu tun haben wollen“, so der Gouverneur von Nischnij Nowgorod, Boris Nemzow. In seinem Gouvernement ist die Reform bereits durchgeführt worden. Zwar werden die Kolchosen zwangsweise aufgelöst; es wird jedoch niemand gezwungen, Farmer zu werden. Boris Nemzow sieht gute Chancen für die erfolgreiche Übertragung dieser Erfahrung auf die gesamte russische Landwirtschaft. Dennoch betont er auch die damit verbundenen politischen Gefahren: „Die Vorgänger Jelzins, die im vorigen Jahrhundert agrarische Vermögensverhältnisse zu reformieren versuchten, wurden Opfer der Attentate.“

Deswegen kamen Jelzins Dekrete Schlag auf Schlag: die Auflösung des Sowjet-Systems, Verfassungs- und Rechtsreform und endlich der entscheidende Schlag gegen die letzte unverändert gebliebene Hochburg des russischen Totalitarismus, die Kolchosen. Der Präsident mußte sich beeilen. Die Konstellation der politischen Kräfte in der zukünftigen Föderalen Versammlng ist schwer vorhersehbar. Mögen die Rivalen Jelzins zerschlagen und in sich zerstritten sein, ganz kampflos werden sie auf ihre halbfeudalen Rechte und Privilegien nicht verzichten. Die Zukunft der Agrarreform hängt mehr von der politischen als von der wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands ab.