„Die Hydra hat ihr Haupt erhoben“

Heute vor 75 Jahren begann mit dem Aufstand der Kieler Matrosen das Ende des Kaiserreichs  ■ Aus Kiel Kersten Kampe

„Wir müssen uns jetzt damit abfinden, unter der roten Fahne zu sein. Der Kaiser hat abgedankt und der Kronprinz auf den Thron verzichtet. Sonderbar ist einem doch, daß es keinen Kaiser mehr gibt.“ Das schrieb eine 18jährige Kieler Schülerin am 10.November 1918 in ihr Tagebuch. Einen Tag zuvor hatte der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann in Berlin die Republik ausgerufen. Mit einer schlichten Meuterei der Matrosen der deutschen Hochseeflotte in Wilhelmshaven begann heute vor 75 Jahren das Ende des deutschen Kaiserreiches.

Gerüchte hatten die Matrosen in Wilhelmshaven alarmiert. Es wurde gemunkelt, was sich später als wahr erwies: Die Marineführung plante, mit einer sogenannten Todesfahrt der Flotte gegen England die Friedensverhandlungen zu verhindern. Die Matrosen aber wollten ein Ende des Krieges. Sie verweigerten den Gehorsam. Das als besonders aufmüpfig geltende Dritte Geschwader erhielt daraufhin den Befehl, in seinen Heimathafen Kiel zurückzukehren, um die Meuterei zu entschärfen. In der Nacht zum 1.November liefen fünf Schiffe mit 5.000 Mann Besatzung in Kiel ein. 46 Rädelsführer, denen die Todesstrafe drohte, wurden in Kiel arrestiert. Mit großzügig erteiltem Landurlaub hoffte die Admiralität wieder Ruhe in die Mannschaften zu bekommen.

Doch rund 250 Matrosen nutzten den Urlaub, um sich im Kieler Gewerkschaftshaus zu treffen und die Freilassung ihrer Kameraden zu fordern. Kontakte zwischen den Matrosen, Gewerkschaft und SPD entstanden. In weiteren Versammlungen wurden erstmals politische Forderungen wie die Beseitigung der herrschenden Klassen erhoben. Die Marineführung versuchte vergeblich, mit verstärkten Patrouillen der Militärpolizei und Lokalverboten für Matrosen die Situation in den Griff zu kriegen. Eine Großdemonstration konnten sie jedoch nicht verhindern. Die Situation eskalierte. Es kam zu Schießereien zwischen den Demonstranten und einer Patrouille. Sieben Menschen starben bei dem Schußwechsel, 29 wurden verletzt. „Die Hydra des Aufruhrs hat gestern abend ihr wildes Schlangenhaupt erhoben“, schrieb darauf die Kieler Volkszeitung. Unterdessen solidarisierten sich die Arbeiter der Germania-Werft mit den Matrosen und traten am 4.November in den Streik.

Längst hatte das Flottenkommando in Kiel die Berliner Reichsregierung über die Vorgänge unterrichtet und um Hilfe gebeten: „Bitte, wenn irgendmöglich, hervorragenden sozialdemokratischen Abgeordneten hierherzuschicken, um im Sinne der Vermeidung von Revolution und Revolte zu sprechen“, heißt es in der Depesche. Am Abend des 4.November traf dann der sozialdemokratische Abgeordnete Gustav Noske in Kiel ein. In einer Versammlung mit dem Sozialdemokraten wurde der erste Arbeiter- und Soldatenrat in Deutschland gegründet. Zugleich wurden die 14 Kieler Punkte aufgestellt. Neben Änderungen in militärischen Bereichen wurde Rede- und Pressefreiheit gefordert, und der Soldatenrat mit Noske als Vorsitzendem übernahm die Macht in Kiel. Im Hafen hißten die Kriegsschiffe rote Flaggen. Doch in der Stadt herrschte heillose Verwirrung. Keiner wußte, wer nun das Sagen hatte. Gerüchte machten die Runde, daß königstreue Infanterie von allen Seiten im Anmarsch sei. Und obwohl Soldatenrat und Oberbürgermeister zur Ruhe aufriefen, starben zehn Menschen bei Schießereien, und 21 Verletzte wurden gezählt.

Ein damals vierjähriger Kieler Junge erinnerte sich Jahre später an diese Tage so: „Einmal sollte ich Milch holen gehen. Auf einmal hatte ich einen Schuß in der Milchkanne. Ich lief heulend weg, und da fing mich ein Soldat auf und brachte mich nach Hause.“

Die Volkszeitung schrieb damals: „Auch sonst ist der gegenwärtige Zustand von einzelnen Elementen benutzt worden. So sind gestern früh die in Sicherheit befindlichen geschlechtskranken Dirnen ausgebrochen.“

Forderung nach der Abdankung des Kaisers wurden nicht nur in Kiel immer lauter. Daraufhin verließ der Bruder des Kaisers, Prinz Heinrich, klammheimlich Kiel. Er schmückte sein Auto mit einer roten Fahne, steckte sich ein rotes Tuch an und setzte sich selbst ans Steuer, um möglichst unerkannt zu entkommen. Diese Flucht fand wenige Tage später übrigens eine Parallele, als Kaiser Wilhelm II. in den Morgenstunden des 10.November fast unbemerkt ins holländische Exil entschwand.

Am 6.November kehrte wieder Ruhe in die Stadt ein. Unterdessen hatten Kieler Matrosen, die die Stadt verlassen hatten, die Ereignisse weiter getragen. In Norddeutschland entstanden nach dem Kieler Vorbild Arbeiter- und Soldatenräte, die die Macht in den Städten übernahmen. Der Berliner Reichsregierung war es mit sozialdemokratischer Beteiligung nicht gelungen, den Aufstand lediglich auf Kiel zu beschränken.

Nach dem 7.November stand Kiel nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses, die Revolution hatte sich längst bis nach München und Berlin ausgedehnt. Doch an diesem Tag setzte Kiel noch ein weiteres Zeichen: Noske übernahm als erster Zivilist den Posten des Gouverneurs und damit das militärische Kommando. Und in der Reichshaupstadt Berlin endete am 9.November der Aufstand mit der Ausrufung der ersten demokratischen Republik in Deutschland.